Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 271

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tigen Schmach unmöglich ist, wenn man sich über die Ursachen dieses Zusammenbruchs und dieser Schmach nicht klar ist. Wer die gewaltige welthistorische Krise des deutschen und des Internationalen Sozialismus seit Ausbruch des Krieges nicht für eine vom Himmel gefallene Zufallserscheinung hält, muß begreifen, daß der Kladderadatsch des 4. August 1914 wohl schon im Wesen der Arbeiterbewegung vor dem 4. August 1914 wurzelte. Ebenso einleuchtend ist es, daß, solange man die eigentlichen Wurzeln des Übels nicht kennt, man nicht daran denken kann, sie auszurotten und einen neuen Bau auf festem Grund auszuführen.

Daraus ergibt sich, daß der Ausgangspunkt, der erste Schritt zur Schaffung einer neuen sozialistischen Bewegung in Deutschland eine gründliche, durchgreifende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sein mußte. Nur aus dem Quell der Selbstkritik, einer grausam gründlichen Prüfung der eigenen Fehler in Programm, Taktik und Organisation können die klaren Richtlinien für die Zukunft gewonnen werden. Damit soll nicht etwa gesagt werden, daß man in Gotha tiefsinnige akademische theoretische Tüfteleien hätte anstellen sollen: Nein, es galt, eine politische Prüfung der Praxis der deutschen Sozialdemokratie und der Gewerkschaften in den Hauptzügen vorzunehmen, ihre Hauptmängel in der Vergangenheit aufzudecken, die Finger in ihre wunden Stellen zu legen, was wir auch in der Agitation vor jedem einfachen Arbeiter tun müssen, wenn wir ihn unter die Fahne der Opposition rufen. Aus einer solchen Prüfung der Vergangenheit allein konnten die großen Linien der künftigen Aufgaben abgeleitet werden.

Von diesem Standpunkt aus muß gesagt werden, daß die Gothaer Tagung, wenigstens was die Arbeitsgemeinschaft[1] betrifft, völlig versagt hat. In Haases Referat war keine Spur von Analyse der Vergangenheit, in Ledebours und Dittmanns Referat keine Spur von Beleuchtung des Wesens und der Richtlinien, nach denen die neuen politischen Aufgaben und das Organisationsstatut nunmehr orientiert werden sollen. Haase fand sehr scharfe und treffende Worte für die Bezeichnung der Scheidemann-Clique oder der Umlerner Lensch–Haenisch. Aber der heutige Verfall der Sozialdemokratie ist keine Personenfrage, und die Tatsache, daß die Scheidemänner, daß die Lensch und Haenisch in der Sozialdemokratie möglich wurden, bedarf selbst einer tieferen Erklärung. Diese zu geben und aus ihr die neuen Aufgaben und Pflichten abzuleiten, haben die Referenten der Arbeitsgemeinschaft nicht einmal versucht. Es soll damit nicht an ihren

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[1] In der Quelle: Arbeitergemeinschaft. – Im Reichstag hatten am 24. März 1916 außer Karl Liebknecht und Otto Rühle 18 sozialdemokratische Abgeordnete gegen den Notetat der Regierung gestimmt. In der folgenden Fraktionssitzung wurden die 18 Abgeordneten aus der sozialdemokratischen Fraktion ausgeschlossen. Sie bildeten daraufhin als „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft” eine eigene Reichstagsfraktion. Karl Liebknecht war schon am 12. Januar 1916 aus der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ausgeschlossen worden, Otto Rühle aus Solidarität mit Liebknecht am 14. Januar aus der Fraktion ausgetreten.