Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 268

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Wir haben mit anderen Verhältnissen zu rechnen als drüben in Rußland, der Kampf um unsere innere Freiheit muß daher andere Formen annehmen. Dieser Kampf hat in diesen Tagen unter dem moralischen Eindruck der Vorgänge in Rußland auf parlamentarischem Boden eingesetzt.”[1] [Hervorhebungen – R. L.]

Also – ein unzweideutiges Bekenntnis zu der Weisheit: In Rußland macht man Revolutionen, in Deutschland hingegen „kämpft” man im Reichstag. Wortwörtlich dasselbe legten Theodor Wolff und der strebsame Rechtsanwalt W. Heine in dem Mosseschen Freisinnsblatt dar! Da haben wir ja wieder eine so klassische Blüte des unverfälschten, unversehrten, unveräußerlichen, unverbesserlichen parlamentarischen Kretinismus, daß keine Prügel dafür zu kräftig wären. Hier wird ja gerade die Unmöglichkeit einer Massenrevolution in Deutschland gepredigt und das abgeschmackte Geschwätz von den „großartig organisierten Machtmitteln des modernen Staates” wiedergekäut. Obwohl gerade der russische Arbeiter- und Soldatenrat zeigt, wie trefflich diese Mittel zu Machtmitteln des Volkes, der Revolution werden, wenn – wenn eben das Proletariat revolutionär ist!

In Deutschland weiß die Arbeitsgemeinschaft den Proletariermassen eine andere Rolle zuzuweisen: Da „die Kraft unserer Parlamentarier” „allein doch zu schwach ist”, meint derselbe Artikel einige Zeilen weiter, sollen sie „in engster Fühlung” mit den Massen verbleiben und für deren „Mitwirkung” bei der parlamentarischen Aktion der Auserwählten im Reichstag Sorge tragen. „Nur dann werden unsere Parlamentarier ihre freiheitlichen Forderungen durchsetzen können.” Und diese tiefgründige Belehrung will das „Mitteilungs-Blatt” aus den Erfahrungen Rußlands geschöpft haben – desselben Rußlands, wo die Massen soeben gerade umgekehrt in unmittelbarer, selbständiger, revolutionärer Aktion – nicht nur gegen den Absolutismus, sondern nicht minder gegen einen monarchistischen, reaktionären Reichstag: gegen die russische Duma – die Republik errichtet haben, wo sie sich diesen Reichstag vollständig unterwerfen, ja noch mehr, ihn gänzlich beiseite schieben mußten, um „die freiheitlichen Forderungen durchsetzen zu können”! Wahrhaftig – ganz anders als in anderen Köpfen malt sich in diesem Kopf die Welt! In Deutschland sollen also die Massen höchstens nur den Chor bilden, der die Großtaten der Reichstagsabgeordneten mit „mitwirkendem” Gesang begleitet. Die Parlamentarier bleiben nach wie vor die agierenden Personen, sie haben die

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[1] Auferstehung. In: Mitteilungs-Blatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgegend, Nr. 2 vom 8. April 1917.