Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 262

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schen „Befreier” selbst vor aller Welt geben mußten, hat sie die russische Revolution gezwungen, und sie hat damit plötzlich die ganze infame Lüge aus der Geschichte gestrichen, von der die deutsche Sozialdemokratie und die offizielle Mythologie des deutschen Militarismus drei Jahre lang lebten. So reinigend, so lügenvertilgend, so antiseptisch wirkt der Sturm einer Revolution, so fegt er mit eisernem Besen plötzlich alle Dunghaufen der offiziellen Heuchelei hinweg, die sich seit Ausbruch des Weltkrieges und dem Verstummen des Klassenkampfes in Europa angesammelt hatten. Der Ententebourgeoisie hat die russische Revolution die Maske der „Demokratie” vom Gesicht gerissen, dem deutschen Militarismus – die Maske des Befreiers von der zarischen Despotie.

Jedennoch, die Frage des Friedens ist auch für die russischen Proletarier nicht ganz so einfach, wie es Hindenburg und Bethmann just in den Kram paßt. Gerade der Sieg der Revolution wie ihre ferneren Aufgaben bedürfen einer sicheren Rückendeckung für die Zukunft. Der Ausbruch der Revolution und die gebieterische Stellung des Proletariats haben sofort den imperialistischen Krieg in Rußland darauf reduziert, was er der verlogenen Phrase der herrschenden Klassen nach angeblich in allen Ländern ist: eine Landesverteidigung. Den Herren Miljukow und Konsorten wurden die schönen Konstantinopel-Träume und die weltbeglückenden „demokratisch-nationalen” Umteilungspläne von der Arbeiter- und Soldatenmasse sofort in den Mund zurückgedrückt, und mit der Losung der Landesverteidigung ist Ernst gemacht worden. Allein, die russischen Proletarier können mit gutem Gewissen nur dann den Krieg beenden und den Frieden machen, wenn ihr Werk: die Errungenschaften der Revolution sowie ihr weiterer ungehinderter Fortgang gesichert sind! Sie, die russischen Proletarier, sind heute die einzigen, die wirklich die Sache der Freiheit, des Fortschritts und der Demokratie zu verteidigen haben. Und diese Dinge müssen heute gesichert werden nicht bloß gegen die Schikanen, den Druck und den Kriegsfuror der Ententebourgeoisie, sondern morgen vor allem – gegen die „Fäuste” der deutschen „Befreier”. Ein halbabsolutistischer Polizei- und Militärstaat ist keine gute Nachbarschaft für eine junge, von inneren Kämpfen geschüttelte Republik und eine im Kadavergehorsam erprobte imperialistische Soldateska keine gute Nachbarschaft für ein revolutionäres Proletariat, das zu den kühnsten Klassenkämpfen von unübersehbarer Tragweite und Dauer ausholt.

Schon jetzt bedeutet die Okkupation des unglückseligen „unabhängigen Polens”[1] durch die Deutschen einen schweren Schlag gegen die russische

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[1] Die Mittelmächte hatten am 5. November 1916 das Königreich Polen proklamiert. Aus dem bisherigen Russisch-Polen sollte ein „selbständiger” Staat mit erblicher Monarchie und konstitutioneller Verfassung gebildet und eng mit Deutschland und Österreich-Ungarn verbunden werden. Die deutsche und die österreichisch-ungarische Regierung hofften, dadurch einen Bundesgenossen zu gewinnen, dessen Menschen- und Materialreserven sie ihrer Kriegführung dienstbar machen konnten.