Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 261

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russischen Sozialisten sämtlicher Schattierungen einen Fußtritt holen. Als rasch befummelte „Schiebung” eines Separatfriedens mit Rußland zwischen Tür und Angel, wie ihn die deutschen „Befreier” gern möchten, denen es auf den Nägeln brennt, geht das Ding entschieden nicht zu machen. Damit das russische Proletariat seine Friedenstendenz zum Siege bringt, ist nötig, daß es im ganzen eine zunehmend ausschlaggebende Stellung im Lande einnimmt, daß seine Klassenaktion an Umfang, an Schwung, an Gründlichkeit, an Radikalismus ins Riesenhafte wächst, daß die Sozialdemokratie alle noch unklaren, vom bürgerlichen Nationalismus genasführten Schichten mitreißt oder niederwirft. Dieser klar sichtbaren und unausweichlichen, aber so abschreckenden Kehrseite der Friedenstendenz in Rußland blicken nun die deutschen „Befreier” mit schlecht verhehltem Entsetzen ins Antlitz. Sie fürchten – und mit gutem Fug –, daß der russische Mohr, anders als der deutsche, nachdem er seine Arbeit getan, nicht wird „gehen” wollen, und sie fürchten die Funken, die von dem nachbarlichen Brand auf die ostelbischen Scheunen herüberfliegen können. Sie sehen wohl ein, daß nur die Entfaltung der äußersten revolutionären Energie in einem umfassenden Klassenkampf um die politische Macht in Rußland die Friedensaktion wirksam durchzusetzen vermag, sie sehnen sich aber zugleich nach den Fleischtöpfen des Zarentums, nach der „jahrhundertalten treu bewahrten Freundschaft mit dem östlichen Nachbarn”, dem Romanowschen Absolutismus. Tua res agitur! Um deine Sache handelt es sich! Dieser Warnungsruf eines preußischen Ministers gegen die russische Revolution lebt in der Seele der deutschen herrschenden Klassen, und die Helden des Königsberger Prozesses[1] sind alle noch „so herrlich wie am ersten Tag”. Eine Republik, und zwar eine vom revolutionären sozialistischen Proletariat frisch gezimmerte und beherrschte Republik, direkt in der Flanke haben, das ist wirklich mehr, als man dem ostelbischen Polizei- und Militärstaat zumuten darf. Und seine ostelbische Polizeiseele muß ihr geheimes Grauen auch noch auf offenem Markte bekennen. Die deutschen „Befreier” müssen heute öffentlich mit gehobenem Finger schwören und versprechen, daß sie nicht beabsichtigen, die Revolution zu erdrosseln und den lieben stupsnasigen Nikolai wieder auf den Zarenthron zu setzen! Zu dieser klatschenden Ohrfeige, die sich die deut-

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[1] Neun deutsche Sozialdemokraten waren in einem Prozeß in Königsberg vom 12. bis 25. Juli 1904 des Hochverrats gegen Rußland, der Beleidigung des Zaren und der Geheimbündelei angeklagt worden, weil sie revolutionäre Literatur nach Rußland befördert hatten. Karl Liebknecht, einer der Verteidiger, prangerte die brutale Unterdrückung in Rußland und die Zusammenarbeit zwischen den preußischen und den zaristischen Behörden an.