Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 260

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-4/seite/260

die Arbeitermassen bloß als militärisches und politisches Kanonenfutter zu betrachten, möchte sie das russische Proletariat wohl dazu ausnutzen, sich ehestens den Krieg vom Halse zu schaffen. Der deutsche Imperialismus in Nöten, der gerade jetzt im Westen wie in Kleinasien tief in der Klemme sitzt und zu Hause vor Ernährungssorgen nicht ein noch aus weiß, möchte sich so rasch wie möglich mit leidlichem Anstand aus der Affäre ziehen, um sich in Ruhe wieder zu weiteren Kriegen auszuflicken und zu rüsten. Dazu soll die russische Revolution dienen, und zwar durch ihre proletarisch-sozialistische Friedenstendenz. Es ist dieselbe Spekulation des Imperialismus, nun mit Hilfe der russischen Revolution Geschäfte zu machen, wie bei den Ententemächten, nur von umgekehrter Seite. Die Westmächte wollen die bürgerlich-liberale Tendenz der Revolution vor den Wagen des Imperialismus spannen, um den Krieg bis zur Niederwerfung des deutschen Konkurrenten fortzusetzen. Der deutsche Imperialismus möchte sich die proletarische Tendenz der Revolution dienstbar machen, um sich der drohenden militärischen Niederlage zu entziehen. Ei, warum denn nicht, meine Herrschaften? Die deutsche Sozialdemokratie hatte so brav dazu gedient, die Entfesselung des Völkermordes als „Befreiungsaktion” wider den russischen Zarismus zu maskieren, nun soll die russische Sozialdemokratie dazu helfen, die in den Nesseln sitzenden „Befreier” aus der stachligen Lage des schiefgegangenen Krieges zu befreien. Die deutschen Arbeiter haben den Krieg mitgemacht, als es dem Imperialismus paßte, die russischen sollen den Frieden machen, wenn es ihm paßt.

Indes, mit Tschcheïdse Kirschen essen ist nicht ganz so kinderleicht wie mit einem Scheidemännchen. Durch eine eilige „Kundgebung” der „Norddeutschen Allgemeinen” und durch rasche Entsendung Scheidemännchens nach Stockholm zu „Unterhandlungen”[1] kann man sich höchstens von den

Nächste Seite »



[1] Ein niederländisch-skandinavischer Ausschuß des Internationalen Sozialistischen Büros hatte alle sozialistischen Arbeiterparteien und -organisationen der kriegführenden Länder für Mai 1917 zu einer Konferenz „zwecks Prüfung der internationalen Lage” nach Stockholm eingeladen. Während die Parteien der Ententeländer ablehnten, entsandte die SPD mit Befürwortung und aktiver Unterstützung deutscher Regierungsstellen im Juni eine Delegation zu vorbereitenden Besprechungen, der u. a. vom Parteivorstand Friedrich Ebert, Hermann Müller und Philipp Scheidemann angehörten. Der sozialrevolutionär-menschewistisch geführte Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten, der ebenfalls eingeladen worden war, übernahm zunächst nicht den Vorschlag des niederländisch-skandinavischen Komitees, sondern lud aus taktischen Erwägungen – mau erhoffte sich dadurch die Teilnahme der Ententesozialisten – die Sozialisten aller Länder, die gegen den Krieg und für einen demokratischen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen waren, für Juli 1917 zu einer Konferenz nach Stockholm ein. Nach Besprechungen der russischen Vertreter mit Vertretern des niederländisch-skandinavischen Komitees, das seine Konferenz hatte verschieben müssen, wurde beschlossen, eine gemeinsame sogenannte Friedenskonferenz zu organisieren. Die Zimmerwalder Linken, besonders die Bolschewiki und die Spartakusgruppe, protestierten gegen eine Konferenz mit Beteiligung rechter Sozialdemokraten und bewirkten, daß die Internationale Sozialistische Kommission als Organ der Zimmerwalder Bewegung die Unterzeichnung des Einladungsaufrufes fur die rechtssozialistische Konferenz ablehnte. Da die englische und die französische Regierung den Delegierten aus ihren Ländern die Ausreise nach Stockholm verweigerten, kam diese Konferenz nicht zustande.