Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 239

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Nachdem Krieg und Imperialismus so zum Lebensknoten der Staaten gemacht, ein und alles für sie geworden sind, ist der Ausgang des Krieges, d. h. die imperialistischen Weltumteilungsprobleme und die Frage der militärischen Vorherrschaft, für die heutigen Regierungen und bürgerlichen Klassen zur Frage des Seins oder des Nichtseins geworden. Sie wissen wohl, daß es für sie – vom imperialistischen Standpunkt – aufs Ganze geht. Und deshalb ist eine „Verständigung”, d. h. eine Lösung unlösbarer Aufgaben und Überbrückung unüberbrückbarer Gegensätze, ein Abbrechen des Krieges vor der letzten Kraftprobe, eine kleinbürgerliche Utopie, die nur einer impotenten Geschichtsauffassung und einer ebenso impotenten Politik als bequeme, feige Ausflucht vorschweben konnte. Die große Lehre aus dem Ausgang des deutschen Friedensangebots und aus der heutigen schrankenlosen Ausbreitung und Vertiefung des Todesringens – eine Lehre, die zu beherzigen und den Massen klarzumachen verdammte Pflicht und Schuldigkeit der sozialistischen Parteien ist – geht dahin:

Die kapitalistischen Staaten sind nicht mehr imstande, aus eigenem Willen dem entfesselten imperialistischen Hexensabbat Halt zu gebieten. Der auf die Menschheit losgelassene Imperialismus muß vielmehr mit fataler Logik aus eigenem Schoß mit jedem Tage der Kriegsdauer nur immer schärfere Gegensätze, immer verzweifeltere Kämpfe hervorbringen. Von sich aus vermag die bürgerliche Gesellschaft nur noch immer wildere Anarchie, Ruin und Bestialität zu produzieren.

Nur eine einzige Macht wäre imstande und war durch die Geschichte berufen, dem rasenden Abrutsch der Gesellschaft in den Abgrund der Anarchie und der Verwilderung in die Speichen zu fallen: das Internationale sozialistische Proletariat. Einen anderen Ausweg aus dem Kriege als die revolutionäre Erhebung des Internationalen Proletariats zum Kampfe um die Macht gibt es nicht mehr – es sei denn die völlige Erschöpfung der Gesellschaft, d. h. wirtschaftlicher, kultureller, moralischer Zusammenbruch und Agonie nach unabsehbarer Dauer des Krieges.

In diesem Sinne war der jüngste Moment in der Psychologie des Krieges, das augenblickliche Zaudern der Kriegführenden und der schwache Versuch, sich selbst dem imperialistischen Todesritt zu entziehen, eine neue welthistorische Probe für das Proletariat – eine Wiederholung des 4. August unter verschärften und erschwerenden Umständen. Das sozialistische Proletariat hat abermals gänzlich versagt, es hat der imperialistischen Bourgeoisie ruhig überlassen, einen Moment lang den Frieden aus freiem Ermessen zu erwägen, um sich dann unter dem Zwang der historischen Fatalität noch rasender kopfüber in den Krieg zu stürzen. Der jetzige

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