Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 238

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Ententemächte in ihnen das heftigste Verlangen nach möglichst rascher Beendigung des Krieges erwecken muß, könnte nur ein Blinder bezweifeln. Dennoch ist der aufblitzende Versuch der Verständigung nicht nur gescheitert, sondern er schlug durch natürliche Logik der Dinge in eine schrankenlose Verschärfung des Krieges, in die tollste Entfesselung der imperialistischen Gegensätze um!

Woher kommt das? Die Vulgärpolitiker des Regierungssozialismus, die Scheidemann und Genossen, wiederholen natürlich mit der Treuherzigkeit ergebener Lakaien die offizielle Erklärung der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung”: Die Bosheit der Ententeregierungen und – fügen sie als „Sozialisten” aus eigenem hinzu – das Versagen der französischen und englischen Sozialisten trage die Schuld an der Verlängerung und Verschärfung des Krieges. Die „Opposition” um die „Arbeitsgemeinschaft”[1] macht einen Schritt weiter und schiebt die Verantwortung teils auf die vage Fassung des deutschen Friedensangebots, teils auf die Scheidemänner selbst, die durch die konsequente Bewilligung der Kriegskredite die deutsche Regierung auch zum heutigen verschärften U-Boot-Krieg ermuntert und befähigt hätten. Die Schicksale des letzten „Verständigungs”versuchs zeigen aber in Wirklichkeit wieder einmal, daß die Geschichtsauffassung, welche sei es den Ausbruch des Krieges, sei es dessen Beendigung vom bösen oder guten Willen der kapitalistischen Regierungen abhängig macht, keinen Schuß Pulver wert ist, daß dem Ausbruch wie auch den weiteren Geschicken des heutigen Weltkrieges vielmehr tiefe soziale und historische Ursachen zugrunde liegen, denen gegenüber die regierenden Diplomaten auf allen Seiten ohne Unterschied in letzter Linie die Rolle der Geschobenen spielen, wie sehr sie sich und anderen einreden mögen, die Schiebenden zu sein.

Der Weltkrieg, der selbst ein Produkt, eine vulkanische Eruption der in den letzten fünfundzwanzig Jahren im Schoße der kapitalistischen Gesellschaft herangereiften imperialistischen Gegensätze und Probleme ist, hat seinerseits in dialektischer Wechselwirkung diese Gegensätze und Probleme ins ungeheure gesteigert. Die drei Kriegsjahre haben dank dem Versagen des Internationalen Proletariats den Imperialismus und Militarismus in allen kriegführenden Staaten zu unumschränkten Herren der Situation, zum Mittelpunkt und zur Achse des gesamten gesellschaftlichen Lebens, zum einzigen ausschlaggebenden Faktor gemacht, dem alles: Wirtschaft, Gesetzgebung, Verfassung, Finanzen, Öffentlichkeit, Religionsglauben, Wissenschaft, Psychologie, restlos in den Dienst gestellt worden ist.

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[1] Im Reichstag hatten am 24. März 1916 außer Karl Liebknecht und Otto Rühle 18 sozialdemokratische Abgeordnete gegen den Notetat der Regierung gestimmt. In der folgenden Fraktionssitzung wurden die 18 Abgeordneten aus der sozialdemokratischen Fraktion ausgeschlossen. Sie bildeten daraufhin als „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft” eine eigene Reichstagsfraktion. Karl Liebknecht war schon am 12. Januar 1916 aus der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ausgeschlossen worden, Otto Rühle aus Solidarität mit Liebknecht am 14. Januar aus der Fraktion ausgetreten.