Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 223

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der Gewerkschaften empfangen im Gewerkschaftshaus Ministerbesuche.[1] Die Haenisch, Lensch, Heinemann werden in der bürgerlichen Presse mit Lob überschüttet und als Musterknaben hingestellt. Alle diese Leute, die bei der Regierung und der Bourgeoisie lieb Kind sind, tragen gerade dadurch das Brandmal ihres Verrates an den Interessen des Volkes. Die Zuchthausjacke Liebknechts ist das beste Ehrenzeugnis für ihn, daß er dem Volke treu gedient, seine wahren Interessen, die Zukunft des Sozialismus verfochten hat.

Ohne großen Mut und eiserne Willenskraft, ohne Opferfreudigkeit und höchsten Idealismus kann die Arbeitersache nicht siegen. Wer die Arbeitermassen heute aus dem Elend emporreißen, wer dem Völkermord ein Ende machen und die sozialistische Internationale wieder aufrichten will, der muß sich gegen eine ganze Welt von Feinden wappnen – nämlich gegen alle bürgerlichen Klassen, gegen die Militärdiktatur und auch gegen die Pflichtvergessenen, die Denunzianten und Judasse in den eigenen Reihen.

Das wußte Liebknecht. Deshalb wollte er mit dem Beispiel vorangehen, sich selbst zum Opfer bringen, um die Massen mitzureißen, ihnen Mut zum Kampfe um die eigene Rettung einzuflößen. Wie früher von der Reichstags- und Landtagstribüne durch sein Wort, so wollte er jetzt durch seinen Prozeß die Massen aufrütteln.

Liebknecht ist zweimal verurteilt worden, aber damit ist seine Sache noch nicht zu Ende. Jetzt steht noch die dritte Instanz bevor. Das Reichskriegsgericht wird noch sprechen. Und jetzt hat das Volk noch mitzureden.

Erhebt sich die Arbeiterschaft rechtzeitig zu Massenprotesten, zu Demonstrationen, zu Massenstreiks, die der Säbeldiktatur am besten die Bedeutung und die Macht der Proletarier fühlbar machen, dann kann unter ihrem Druck das bisherige Urteil gegen Liebknecht kassiert, sein Prozeß von neuem angeordnet werden, und dann können sich die Kerkertore Liebknechts öffnen. Nur der Druck des Massenprotestes und die Angst vor noch weiterer Aufregung im Lande und im Schützengraben können die Schergen zwingen, das verhaßte Opfer loszulassen. Bleibt aber die Arbeiterschaft still und ruhig, erhebt sie nicht ihre laute Stimme gegen das Schandurteil, dann wird das Reichskriegsgericht nicht über Liebknecht

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[1] Die Berliner Gewerkschaftskommission hatte die Reichsbehörden und die preußischen Ministerien zu einer Besichtigung von Berliner Gewerkschaftseinrichtungen und Anlagen der Konsumgenossenschaft eingeladen, um besonders deren Leistungen während des Krieges zu zeigen. An der Führung, die am 14. November 1914 unter der Leitung von Albert Südekum stattfand, hatten der preußische Innenminister Friedrich Wilhelm von Loebell, Vertreter des Kriegsministers, des Justizministers, des Landwirtschaftsministers, Handelsminister Reinhold Sydow u. a. teilgenommen.