Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 222

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Was ist die Folge des Verrats der offiziellen Führer der Sozialdemokratie an dem Internationalen Sozialismus und des stummen Gehorsams der Massen? Was erleben wir? Der grausige Völkermord geht immer weiter und weiter und wächst sich über immer neue Länder aus. Statt sich miteinander zum Kampf gegen das Internationale Kapital zu vereinigen, machen die Proletarier aller Länder einander nieder, schneiden einander auf Geheiß der Kapitalisten die Gurgeln ab. Mindestens 5 bis 6 Millionen, davon vier Fünftel Proletarier, sind schon ins kalte Grab gesunken. Ungezählte Millionen werden als Krüppel ihr Leben lang dahinsiechen. Ihre Frauen und Kinder verhungern halb und wissen sich bei den wucherischen Preisen und dem Mangel an Lebensmitteln der bittern Not kaum zu erwehren. Die ganze kommende Generation der Arbeiterschaft wird durch die furchtbare Unterernährung in der Wurzel an ihrer Gesundheit und Lebenskraft getroffen. Unterdessen machen die Kriegslieferanten und Wucherer fabelhafte Geschäfte, kaufen Landgüter, Villen, Brillanten, wissen nicht wohin mit dem Reichtum. Und die Peitsche des Belagerungszustandes saust immer toller über der Volksmasse, die Presse ist geknebelt, immer neue Verhaftungen, immer neue Haussuchungen, Anklagen und Prozesse. Und wollen sich die armen Frauen über die Not, den Mangel und die Wucherpreise etwa auf der Straße beklagen, dann bekommen sie die rohe Faust des Polizeischergen oder seinen Säbel zu kosten.

Jetzt sieht der Blindeste, wer die wirklichen Interessen und die Zukunft der Arbeiterklasse vertrat: ob Liebknecht, der sich dem Völkermord, den herrschenden Klassen mit aller Gewalt und auf jedem Schritt entgegenstemmte, oder die anderen „Sozialdemokraten”, die sich vor der Regierung beugen, mit der imperialistischen Bourgeoisie Frieden machen und „durchhalten” wollen. Jetzt kann jeder Arbeiter sehen, wer recht hatte: ob Liebknecht, der Geächtete, Gefesselte, zum Zuchthaus Verurteilte, oder die anderen, die in den Vorzimmern des Reichskanzlers scharwenzeln und sich in der Gunst der Regierung sonnen. Ein Göhre kriegt als Offizier Orden.[1] Ein Südekum reist herum als Regierungsagent.[2] Die Scheidemann, Ebert, David, Schöpflin werden als Gäste im kaiserlichen Hauptquartier bewirtet. Die Legien und Robert Schmidt von der Generalkommission

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[1] Paul Göhre hatte sich freiwillig zum Landsturm gemeldet und war 1915 an der Ostfront zum Offizier befördert worden.

[2] Albert Südekum hatte auf Reisen nach Schweden und Italien im August und September 1914 versucht, die Sozialisten dieser Länder für die Politik der deutschen Regierung zu gewinnen. Er war weiterhin im Auftrag der Regierung im September 1914 nach Wien sowie im Oktober 1914 und im Januar 1915 nach Rumänien gereist, um dort Kontakte herzustellen, von denen man sich eine Unterstützung bei der Organisierung von Aufständen in Rußland, besonders in der Ukraine, erhoffte.