Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 212

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sieht es in weiten Kreisen der Opposition damit noch leider sehr betrübend aus. Unklarheit über die eigentlichen Aufgaben und Schwächlichkeit der Haltung ringen hier vielfach um die Palme.

In der jüngsten Zeit haben die Parteigenossen in einer Reihe von Wahlkreisen zu den sogenannten Parteidifferenzen, d. h. zu den Schicksalsfragen des Sozialismus, öffentlich Stellung genommen. Und in welcher Form geschah dies z. B. in Kiel, in Nordhausen? In Form von Resolutionen, in denen die Billigung oder die Zustimmung zu der Politik der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft[1] ausgesprochen wird. Dies ist der Ausdruck der Opposition, zu dem nun die Genossen der verschiedenen Wahlkreise von den Mitgliedern und Anhängern der Arbeitsgemeinschaft aufgefordert werden.

Was ist nun aber jene „Politik der Arbeitsgemeinschaft”, deren Billigung als Glaubensbekenntnis der Parteimassen und als politisches Erkennungswort gelten soll? Wann und wie ist jene Politik je formuliert, als etwas Ganzes zusammengefaßt, begründet, kundgegeben worden?

Wir wollen diesmal keine Einzelheiten in die Erinnerung rufen, aber es ist für jedermann, der die letzte Reichstagssession aufmerksam verfolgt hat, klar – und die betreffenden Genossen aus dem Reichstag werden es sicher selbst ehrlich zugeben –, daß es eine „Politik der Arbeitsgemeinschaft” als etwas Geschlossenes, Konsequentes, Durchdachtes und Zielklares, um das sich weite Parteikreise als um eine Achse gruppieren könnten, gar nicht gibt. Vielmehr lief jene Politik bisher auf eine Reihe sicher gutgemeinter, aber mehr oder weniger glücklicher, mehr oder weniger schwankender Tastversuche von Fall zu Fall aus, eine Politik, die noch selbst ganz im Werden, eigentlich in den Anfängen begriffen und innerer Festigung, Klärung und Schärfung dringend bedürftig ist.

Allein, mag sie bisher so vortrefflich gewesen sein, wie sie es leider nicht gewesen ist – wie kann überhaupt die politische Stellung der Massen in der heutigen Situation sich darin erschöpfen, die „Politik der Arbeitsgemeinschaft” zu billigen oder nicht zu billigen? Ist es nicht – man verzeihe uns das harte, aber einzig passende Wort –, ist es nicht wieder ein Stück jenes parlamentarischen Kretinismus, der den Krebsschaden unseres Parteilebens seit Jahrzehnten bildete, wenn heute, nach allem und trotz allem, was wir erlebt haben, die Massen der Genossen glauben etwas Wesentliches gesagt und geleistet zu haben, indem sie ihre Zustimmung zur Haltung der Arbeitsgemeinschaft aussprechen? Genauso wie zu Beginn des Krieges der Kadavergehorsam der Millionen Arbeiter die Partei wie eine

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[1] Im Reichstag hatten am 24. März 1916 außer Karl Liebknecht und Otto Rühle 18 sozialdemokratische Abgeordnete gegen den Notetat der Regierung gestimmt. In der folgenden Fraktionssitzung wurden die 18 Abgeordneten aus der sozialdemokratischen Fraktion ausgeschlossen. Sie bildeten daraufhin als „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft” eine eigene Reichstagsfraktion. Karl Liebknecht war schon am 12. Januar 1916 aus der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ausgeschlossen worden, Otto Rühle aus Solidarität mit Liebknecht am 14. Januar aus der Fraktion ausgetreten.