Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 211

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stand legt sich eine ganz neue „Kreisorganisation” zu! – Der Kasus wäre zum Lachen, wenn die bloße Möglichkeit einer solchen frechen Spiegelfechterei nicht immerhin ein bezeichnendes Symptom der tiefen Korruption aller demokratischen Begriffe wäre, die sich im vergangenen Leben der Partei im Laufe der Zeit eingefressen hat, und wenn sie nicht ein noch bezeichnenderes Symptom für die künftigen Wirren wäre, die uns bei der Abrechnung mit den Scheidemann und Konsorten erwarten.

Genauso wie jetzt im Kreise Teltow wird es der Partei im ganzen ergehen, sobald sie den Versuch machen wird, ihre unverfälschte Meinung gegen den Kurs des 4. August zum Ausdruck und zur Geltung zu bringen. Wie die preußischen Nutznießer des Dreiklassenwahlrechts[1] ihre Machtposition im Landtag skrupellos ausnutzen, um jede Reform eben dieses Wahlrechts zu verhindern, so haben die Scheidemann–Ebert und ihre Kreaturen beschlossen, ihre Posten und alle Machtmittel, die sich aus den Posten ergeben, bis zum äußersten auszunutzen, um sie weiter zu behalten und die Partei, falls sie sich dagegen aufbäumt, in der Anarchie der inneren Intrigen, Denunziationen, Spaltungen, Scheingründungen zugrunde gehen zu lassen. Einem Parteitag, der die Politik des 4. August zu desavouieren wagt, wird ein gelber Gegenparteitag aus Kreaturen des Parteivorstandes erwachsen, der den Scheidemann–Ebert den Lorbeer winden wird. Der Partei, die es wagen wird, sich im Sinne des Internationalen Sozialismus einen neuen Parteivorstand zu geben, wird sofort eine gelbe Gegenpartei erwachsen, die sich die Ebert und Scheidemann „ergänzen” werden. Ebert und Scheidemann sind „unabsetzbar”, wie die Groger und Thurow „unabsetzbar” sind. Mit Mitteln des Statuts, der Demokratie, der Mehrheitsbeschlüsse ist ihnen nicht beizukommen, genauso wie die Militärdiktatur, der Völkermord und der organisierte Massenhunger nicht mit Berufungen auf die Verfassungsparagraphen, mit Reichstagsreden und mit Versammlungsresolutionen zu bannen sind. Die Auseinandersetzung mit der Diktatur des Parteivorstands und seines Anhangs wie die Auseinandersetzung mit der Diktatur des Imperialismus sind keine Rechtsfragen, sie sind Machtfragen – dies endlich zu begreifen ist die wichtigste und dringendste Erkenntnis, die der sogenannten Opposition in unseren Reihen not tut.

Während die Männer des 4. August, bei aller Beschränktheit ihrer politischen Horizonte und ihrer weiteren Berechnungen, jedenfalls das unmittelbare Ziel, das sie sich gesteckt haben, klar und fest ins Auge fassen und geradenwegs – wenn auch auf krummen Wegen – darauf losgehen,

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[1] Das Dreiklassenwahlsystem war ein ungleiches, indirektes Wahlverfahren, bei dem die Wahlberechtigten jedes Wahlbezirkes nach der Höhe ihrer direkten Steuern in drei Klassen eingeteilt wurden. Jede Klasse wählte für sich in offener Abstimmung die gleiche Anzahl Wahlmänner, die dann erst die Abgeordneten wählen konnten. Dieses undemokratische Wahlrecht galt von 1849 bis 1918 für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus des preußischen Landtages.