Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 210

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-4/seite/210

Anarchie, die im Kreise Teltow-Beeskow[1] aufgebrochen ist, zeigt wie im Spiegel die Zukunft der Partei im ganzen und die Schicksale des künftigen Parteitags, auf den die Opposition der „goldnen Mitte” ihre ganze Hoffnung zu setzen pflegt. Das Treiben der Groger und Thurow im Auftrage der Scheidemann-Ebert sowie jenes Flugblatt dieses sogenannten „Parteivorstands” gegen „anonyme Flugblätter” offenbaren mit aller Deutlichkeit, worauf der Plan der „Durchhalter” geht. Sie haben den verzweifelten Mut von Renegaten, die alle Brücken zwischen sich und einer ehrenhaften Vergangenheit verbrannt haben. Sie haben, als freiwillige Stützen der imperialistischen Regierung, beschlossen: entweder den Kurs des 4. August zur dauernden Politik der Sozialdemokratie zu machen, die deutsche Arbeiterschaft von der sozialistischen Internationale abzulösen und sie an den Wagen der deutschen Bourgeoisie anzukoppeln, oder – von der Partei nicht einen Stein auf dem andern übrigzulassen. Und dieser Plan wird systematisch, zäh und skrupellos ins Werk gesetzt.

Während die Säbeldiktatur jede Regung der Opposition im Lande gegen den Völkermord mit Gefängnis, Zuchthaus oder militärischer Einziehung bestraft, sucht der Parteivorstand jede Opposition in der Partei gegen seine Diktatur in der Anarchie zu ersticken. Die gelbe Gegengründung der Groger und Thurow ist eine typische Kundgebung dieser Politik, und nach den Schicksalen der Kreisgeneralversammlung in Teltow-Beeskow kann man sich an den Fingern abzählen, was erfolgt, wenn der künftige Parteitag in seiner Mehrheit nicht aus gehorsamen Mamelucken des Parteivorstandes bestehen wird oder wenn er, nach zunehmender Opposition im Lande, eine unbotmäßige Mehrheit auch nur aufzuweisen verspricht. Rund 200 gehorsame Schachfiguren genügten dem Parteivorstand, um in dem größten Kreise Deutschlands gegen die gesamte, Zehntausende zählende Masse der Parteimitglieder eine Scheinorganisation zu gründen und, sich auf diesen Schein stützend, das ganz reale Eigentum jener Zehntausende von Proletariern – die gesamte Kreiskasse in den eigenen Fingern zu behalten. Ein in aller Form abgesetzter Kreisvorstand aus sieben Männeken genügte, um sich zu einer „Kreisorganisation” auszuwachsen. Bei niederen Organismen wachsen bekanntlich wichtige Glieder, wenn sie dem Tier durch einen Unfall verlorengegangen sind, ohne Schwierigkeit wieder nach. Manche Reptile ergänzen, wenn man ihnen den Schwanz abreißt, binnen kurzem das verlorene Körperstück von selbst. In der deutschen Sozialdemokratie geschehen größere Wunder; hier „ergänzt” ein abgehackter Schwanz den ganzen Organismus, ein abgestreifter Kreisvor-

Nächste Seite »



[1] Die Generalversammlung des Wahlkreises Teltow-Beeskow-Storkow-Charlottenburg am 18. Juni 1916 enthob den mehrheitlich sozialdemokratisch orientierten Kreisvorstand mit Franz Thurow und Max Groger an der Spitze seines Amtes und wählte einen neuen, provisorischen Kreisvorstand, in dem die Spartakusgruppe vertreten war. Obwohl der Kreisvorstand von der Berliner Verbands- Generalversammlung bestätigt wurde, erkannte ihn der Parteivorstand nicht an und bezeichnete den alten als allein zu Recht bestehend. Er ließ am 6. August 1916 eine „Ordentliche Generalversammlung” einberufen, in der eine Sonderorganisation unter Führung von Thurow und Groger gebildet wurde.