Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 207

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Und was von der grauen Vorzeit, gilt von aller Geschichte der Menschheit bis auf den heutigen Tag. Diese Geschichte wimmelt von Heldensagen, von Großtaten einzelner, sie hallt vom Ruhme weiser Könige, kühner Feldherren, verwegener Entdeckungsreisender, genialer Erfinder, heldenhafter Befreier. Aber all dies bunte und schöne Treiben einzelner ist gleichsam nur das äußere geblümte Kleid der menschlichen Geschichte. Auf den ersten Blick ist alles Gute und Böse, das Glück wie die Not der Völker Werk einzelner Herrscher oder großer Männer. In Wirklichkeit sind es die Völker, die namenlosen Massen selbst, die ihr Schicksal, ihr Glück und ihr Wehe schaffen. Prometheus, ein Halbgott, soll nach der griechischen Sage einst in uralter Zeit das Feuer vom Himmel gestohlen und den Menschen zum Gebrauch überbracht haben. Nein, in Wirklichkeit ist der Gebrauch des Feuers die Frucht von Mühen zahlloser Menschen, die sich in langen Jahrtausenden der Vorzeit aus dem tierischen Dasein zum Licht der Kultur vorwärts tasteten. Die stolzen Pyramiden in der afrikanischen Wüste tragen die Namen ihrer Schöpfer: berühmter Pharaonen. Nein, die Pyramiden sind in Wirklichkeit das Werk Tausender und aber Tausender geduldiger Sklaven, die in schwerer Zwangsarbeit unter lautem Stöhnen die steinernen Zeugnisse der eigenen Versklavung errichteten. Denn zur Herrschaft eines Pharao gehört die Geduld von Millionen, die ihren Nacken unter das Joch beugen und sich beherrschen lassen. Der Waffenruhm Napoleons erfüllt ein Jahrhundert der Geschichte. Aber die Napoleonischen Kriegszüge waren nur die unabweisbare Folge der Großen Französischen Revolution. Diese jedoch war nicht das Werk einzelner Helden, nicht Dantons, Robespierres oder Marats, sondern sie war das Werk der Massen französischer Bauern, Pariser Handwerker und Arbeiter, die sich zur eigenen Befreiung vom Joch des mittelalterlichen Feudalismus aufrafften. Und auch die Kriege selbst, ob unter Napoleon oder einem der heutigen berühmten Feldherren, werden in Wirklichkeit nicht von Kaisern, Generälen oder Diplomaten gemacht, sondern – von den Völkern, von den Massen selbst. Kein Krieg ist möglich, den nicht die Volksmassen selbst, sei es durch kriegerische Begeisterung oder wenigstens durch unterwürfige Duldung, verantworten. Wo hätten sonst die Generäle ihre Millionen von Soldaten, die sie in die Schützengräben schicken, und wo hätten die Regierungen die Milliarden an Geld her, die sie aus den Steuern der Massen bekommen, um die Kosten der Kriege zu bezahlen?

Und ebenso wie die Not ist das Wohl der Völker nur als das eigene Werk der Millionen möglich. Die Abschaffung der Ausbeutung und der Unterdrückung in der Gesellschaft, die Herbeiführung anderer Zustände,

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