Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 206

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reisen unsere Kenntnis über die Lebensweise sogenannter „wilder” Völker erweitert und gefestigt haben, daß nie und nirgends in einem der fünf Weltteile vereinzelt lebende Menschen gefunden worden sind oder daß man von solchen auch nur gehört hätte, daß im Gegenteil auch die als „wildeste” bekannten Völker nicht zerstreut, sondern in größeren oder geringeren Horden, also massenweise, miteinander leben und arbeiten.

Endlich widerspricht der Fabel vom „vereinzelten Menschen” der Urzeit alles, was wir über die Urzeit selbst aus ihren direkten Überbleibseln in den verschiedenen älteren Erdschichten erfahren. So zeigen uns die meisten jener Höhlen, in denen urälteste Skelette oder Knochenreste von Menschen und erlegten Tieren sowie von Menschenhand gefertigte Geräte ausgegraben worden sind, ebenso die mächtigen Muschelhaufen an den Küsten verschiedener Weltteile, die als Speisereste uralter Erdbewohner erkannt worden sind, nicht minder die Pfahlbauten, die in den Seen der Schweiz und Italiens entdeckt wurden, ein Bild des gesellschaftlichen Lebens vieler Menschen zusammen und durchaus nicht einer isolierten Lebensweise einzelner.

Eine ernstere Überlegung über die Grundlagen und das Wesen der menschlichen Kultur unterstützt jene unmittelbaren Zeugnisse aus grauer Vorzeit aufs kräftigste. Was ist der Kern der menschlichen Kultur, was unterscheidet den Menschen von der übrigen Tierwelt? Die Sprache, die Arbeit mit selbstgefertigten Werkzeugen, die Kunst. Nun, alle diese Merkmale des Menschendaseins wären undenkbar ohne dauernde gesellschaftliche Mitwirkung von Massen. Erst im Zusammenleben und im Verkehr vieler miteinander erwachten in den Menschen die höheren Bedürfnisse, die zur Entdeckung und Erfindung aller Kulturmittel der Arbeit und des Lebens geführt haben. Und nur durch den ständigen Austausch der Beobachtungen und Erfahrungen vieler sammelte sich nach und nach der Schatz der Naturerkenntnis, der zur stufenweisen Beherrschung der äußeren Natur durch die menschliche Arbeit den Weg angebahnt hat. Die Sprache und die Kunst aber, diese unentbehrlichsten Pfeiler des Menschendaseins, sind nichts anderes als Verkehrsmittel, Verständigungsmittel zwischen Mitgliedern derselben menschlichen Gesellschaft.

Nimmt man alles zusammen, was wir über den Ursprung und die Fortentwicklung der Kultur beobachten konnten, überliefert erhielten und durch tieferes Nachdenken erkannt haben, so müssen wir zu dem wichtigen und unabweisbaren Schluß gelangen: Die gesamte menschliche Kultur ist ein Werk des gesellschaftlichen Zusammenwirkens vieler, ist ein Werk der Masse.

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