Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 176

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Also wiederum eine grundsätzliche Unterstützung der Mehrheitspolitik der sozialistischen Verräter und ein Abrutschen in die burgfriedliche Einigkeit mit den bürgerlichen Parteien – drei Wochen nach der scheinbaren Erhebung der Fahne des Klassenkampfes.

Nehmen wir ein anderes Beispiel. In den sogenannten „Kleinen Anfragen” haben die Abgeordneten im Reichstag eine unschätzbare Waffe in die Hand gekriegt, um sich in dieser kläglichen Jasagerversammlung von gehorsamen Mamelucken der Militärdiktatur einen ständigen Widerstand gegen die Regierung und die bürgerliche Mehrheit, eine ständige Beunruhigung der imperialistischen Phalanx, eine ständige Aufrüttelung der Volksmassen zu ermöglichen.[1] In den Händen von 20 entschlossenen Volksvertretern könnten die Kleinen Anfragen zu einer wahren Nilpferdpeitsche werden, die unermüdlich auf den Rücken der imperialistischen Meute niedersausen würde. Was sehen wir statt dessen? Die Ledebour, Haase und Genossen denken nicht daran, von diesem wichtigen Kampfmittel Gebrauch zu machen. Nicht ein einziges Mal haben sie es anzuwenden versucht. Sie überlassen es ruhig Karl Liebknecht allein, mitten in der kläffenden Meute nach allen Seiten zu fechten und sich zu wehren, selbst aber haben sie offenbar Angst vor der eigenen Courage, sie wagen es einfach nicht, wider den Stachel zu löcken und sich von der Fuchtel der Fraktionsmehrheit zu befreien.

Ja, noch mehr! Als die imperialistische Reichstagsmehrheit mitsamt der sozialdemokratischen Fraktionsmehrheit den Vorstoß machte, um die Waffe der Kleinen Anfragen durch die willkürliche Zensur des Reichstagspräsidenten zunichte zu machen, da ließen es die Ledebour und Haase mit Genossen ruhig geschehen! Diese angeblichen Oppositionsführer unterstützten den Gewaltstreich gegen ein demokratisches Recht der Volksvertretung, gegen ein wichtiges Mittel zur Aufrüttelung der Massen. Sie beteiligten sich an dieser neuen Verräterei der Fraktionsmehrheit.

Und wie verhielt es sich am 17. Januar, als die militärischen Fragen im Reichstag zur Debatte standen, als die gute Gelegenheit geboten war, an dem ganzen Treiben der Säbeldiktatur, an den Bestialitäten des Krie-

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[1] Das parlamentarische Mittel der Kleinen Anfragen war im Mai 1912 unter dem Druck sozialdemokratischer und linksbürgerlicher Abgeordneter in die Geschäftsordnung des Reichstages aufgenommen worden. Damit bekamen die Abgeordneten eine Handhabe, um kurzfristig von der Regierung Auskünfte über wichtige politische Fragen zu erlangen, ohne den umständlichen Weg über eine Interpellation gehen zu müssen, zu der die Unterschrift von 30 Abgeordneten erforderlich war. Die Anfragen mußten schriftlich eingereicht werden; eine Besprechung der Antwort des Reichskanzlers oder seines Vertreters war nicht möglich. Die Kleinen Anfragen wurden während des Krieges von Karl Liebknecht zu einer wichtigen Form der revolutionären Ausnutzung des bürgerlichen Parlaments entwickelt.