Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 150

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der Periode der Massenstreiks. Und diese Leitung schlägt von selbst gewissermaßen in technische Leitung um. Eine konsequente, entschlossene, vorwärtsstrebende Taktik der Sozialdemokratie ruft in der Masse das Gefühl der Sicherheit, des Selbstvertrauens und der Kampflust hervor; eine schwankende, schwächliche, auf der Unterschätzung des Proletariats basierte Taktik wirkt auf die Masse lähmend und verwirrend. Im ersteren Falle brechen Massenstreiks ,von selbst’ und immer ,rechtzeitig’ aus, im zweiten bleiben mitunter direkte Aufforderungen der Leitung zum Massenstreik erfolglos.”[1]

Daß es nicht auf die äußere, technische Form der Aktion, sondern auf ihren politischen Inhalt ankommt, beweist die Tatsache, daß z. B. gerade die Parlamentstribüne als der einzige freie, weithin vernehmbare und international sichtbare Posten zum gewaltigen Werkzeug der Volksaufrüttelung in diesem Falle werden konnte, wenn sie von der sozialdemokratischen Vertretung dazu benutzt worden wäre, laut und deutlich die Interessen, die Aufgaben und die Forderungen der Arbeiterklasse in dieser Krise zu formulieren.

Ob diesen Losungen der Sozialdemokratie die Massen durch ihr Verhalten Nachdruck verliehen hätten? Niemand kann das im Drang sagen. Aber das ist auch gar nicht das Entscheidende. Haben doch unsere Parlamentarier auch die Generäle des preußisch-deutschen Heeres in den Krieg „vertrauensvoll” ziehen lassen, ohne ihnen etwa vor der Kreditbewilligung die seltsame Zusicherung im voraus abzufordern, daß sie unbedingt siegen werden, daß Niederlagen ausgeschlossen bleiben. Was für die militärischen Armeen, gilt auch für revolutionäre Armeen: Sie nehmen den Kampf auf, wo er sich bietet, ohne im voraus die Gewißheit des Gelingens zu beanspruchen. Schlimmstenfalls wäre die Stimme der Partei zuerst ohne sichtbare Wirkung geblieben. Ja, die größten Verfolgungen wären wahrscheinlich der Lohn der mannhaften Haltung unserer Partei geworden, wie sie 1870 der Lohn Bebels und Liebknechts gewesen. „ … aber was hat das zu sagen?” – meinte schlicht Ignaz Auer in seiner Rede über die Sedanfeier 1895 – „Eine Partei, welche die Welt erobern will, muß ihre Grundsätze hochhalten, ohne Rücksicht darauf, mit welchen Gefahren das verknüpft ist, sie wäre verloren, wenn sie anders handelte!”[2]

„Gegen den Strom schwimmen ist nie leicht”, schrieb der alte Liebknecht, „und wenn der Strom mit der reißenden Schnelle und Wucht eines Niagara dahinschnellt, dann ist’s erst recht keine Kleinigkeit.

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[1] R. Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Hamburg 1906. [Rosa Luxemburg: Ge-sammelte Werke, Bd. 2, Berlin 1972, S. 133 f.] – [Fußnote im Original]

[2] I[gnaz] Auer: Sedanfeier und Sozialdemokratie. Rede, gehalten in einer Versammlung zu Berlin am 4. September 1895, Berlin 1895, S. 6.