Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 151

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Den älteren Genossen ist noch die Sozialistenhatz des Jahres der tiefsten ,nationalen Schmach’: der Sozialistengesetz-Schmach – 1878 – im Gedächtnis. Millionen sahen damals in jedem Sozialdemokraten einen Mörder und gemeinen Verbrecher, wie 1870 einen Vaterlandsverräter und Todfeind. Solche Ausbrüche der ,Volksseele’ haben durch ihre ungeheure Elementarkraft etwas Verblüffendes, Betäubendes, Erdrückendes. Man fühlt sich machtlos einer höheren Macht gegenüber – einer richtigen, jeden Zweifel ausschließenden force majeure. Man hat keinen greifbaren Gegner. Es ist wie eine Epidemie – in den Menschen, in der Luft, überall.

Der Ausbruch von 1878 war jedoch an Stärke und Wildheit bei weitem nicht vergleichbar dem von 1870. Nicht bloß dieser Orkan menschlicher Leidenschaft, der alles, was er packt, auch beugt, niederwirft, zerbricht – dazu noch die furchtbare Maschinerie des Militarismus in vollster, furchtbarster Tätigkeit, und wir zwischen den herumlaufenden eisernen Rädern, deren Berührung der Tod war, und zwischen den eisernen Armen, die um uns herumschwirrten und jeden Augenblick uns fassen konnten. Neben der Elementarkraft entfesselter Geister der vollendetste Mechanismus der Mordkunst, den die Welt bis dahin gesehen. Und alles in wildester Arbeit – alle Dampfkessel geheizt zum Bersten. Wo bleibt da die Einzelkraft, der Einzelwille? Namentlich wenn man sich in verschwindender Minderheit weiß und im Volke selbst keinen sicheren Stützpunkt hat.

Unsere Partei war erst im Werden. Wir waren auf die denkbar schwerste Probe gestellt, ehe die erforderliche Organisation geschaffen war. Als die Sozialistenhatz kam, im Jahre der Schande für unsere Feinde und im Jahr des Ruhms für die Sozialdemokratie, hatten wir schon eine so starke und weitverzweigte Organisation, daß jeder durch das Bewußtsein eines mächtigen Rückhalts gekräftigt war und daß kein Denkfähiger an ein Erliegen der Partei glauben konnte.

Also eine Kleinigkeit war’s nicht, damals gegen den Strom zu schwimmen. Aber was war zu machen? Was sein mußte, mußte sein. Da hieß es: die Zähne zusammenbeißen und, was kommen wollte, an sich herankommen lassen. Zur Furcht war keine Zeit …

Nun, Bebel und ich … beschäftigten uns keine Minute mit der Warnung. Das Feld räumen konnten wir nicht, wir mußten auf dem Posten bleiben, komme was komme.”[1]

Sie blieben auf dem Posten, und die deutsche Sozialdemokratie zehrte vierzig Jahre lang von der moralischen Kraft, die sie damals gegen eine Welt von Feinden aufgeboten hatte.

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[1] Der Leipziger Hochverratsprozeß vom Jahre 1872. Berlin 1960. S. 389, 392.