Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 116

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schen Absolutismus und der europäischen Reaktion. Tua res agitur (ruft ein preußischer Justizminister den herrschenden Klassen Deutschlands zu, auf die wankenden Fundamente des zarischen Regimes in Rußland mit dem Finger weisend. „Die Einrichtung einer demokratischen Republik in Rußland müßte auf Deutschland in empfindlichster Weise einwirken”, erklärt in Königsberg der Erste Staatsanwalt Schütze[1]. „Brennt meines Nachbars Haus, so ist auch das meinige gefährdet.” Und sein Gehilfe Caspar unterstreicht: „Übrigens ist es natürlich von erheblichem Einfluß auf Deutschlands öffentliche Interessen, ob das Bollwerk des Absolutismus bestehen bleibt oder nicht. Unzweifelhaft können die Flammen einer revolutionären Bewegung leicht nach Deutschland hinüberschlagen.” Hier war es endlich mit Händen zu greifen, wie der Maulwurf der geschichtlichen Entwicklung die Dinge unterwühlt, auf den Kopf stellt, die alte Phrase vom „Hort der europäischen Reaktion” begraben hatte. Die europäische Reaktion, die preußisch-junkerliche in erster Linie, ist es, die jetzt der Hort des russischen Absolutismus ist. An ihr hält er sich noch aufrecht, in ihr kann er tödlich getroffen werden. Die Schicksale der russischen Revolution sollten das bestätigen.

Die Revolution wurde niedergeschlagen. Aber gerade die Ursachen ihres vorläufigen Scheiterns sind, wenn man in sie etwas tiefer hineinblickt, lehrreich für die Stellung der deutschen Sozialdemokratie im heutigen Kriege. Zwei Ursachen können uns die Niederlage der russischen Erhebung im Jahre 1905/1906 trotz ihres beispiellosen Aufwands an revolutionärer Kraft, Zielklarheit und Zähigkeit erklären. Die eine liegt im inneren Charakter der Revolution selbst: in ihrem enormen geschichtlichen Programm, in der Masse von ökonomischen und politischen Problemen, die sie wie vor einem Jahrhundert die Große Französische Revolution auf gerollt hat und von denen einige, wie die Agrarfrage, überhaupt im Rahmen der heutigen Gesellschaftsordnung nicht zu lösen sind ; in der Schwierigkeit, eine moderne Staatsform für die Klassenherrschaft der Bourgeoisie gegen den konterrevolutionären Widerstand der gesamten Bourgeoisie des Reiches zu schaffen. Von hier aus gesehen, scheiterte die russische Revolution, weil sie eben eine proletarische Revolution mit bürgerlichen Aufgaben oder, wenn man will, eine bürgerliche Revolution mit proletarisch-sozialistischen Kampfmitteln, ein Zusammenstoß zweier Zeitalter unter Blitz und Donner war, eine Frucht sowohl der verspäteten Entwicklung der Klassenverhältnisse in Rußland wie deren Überreife in Westeuropa. Von hier aus gesehen, ist auch ihre Niederlage im Jahre 1906 nicht ihr

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[1] In der Quelle Schulze.