Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 106

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Aber der Zwischenfall in Sarajevo hatte nur den Vorwand geliefert. An Ursachen, an Gegensätzen war seit langer Zeit alles für den Krieg reif, die Konstellation, die wir heute erleben, war seit einem Jahrzehnt fertig. Jedes Jahr und jede politische Begebenheit der letzten Zeit brachten ihn einen Schritt näher: die türkische Revolution, die Annexion Bosniens, die Marokkokrise, die Tripolisexpedition, die beiden Balkankriege. Alle Militärvorlagen der letzten Jahre wurden direkt mit Hinblick auf diesen Krieg als bewußte Vorbereitung zur unvermeidlichen Generalabrechnung eingebracht. Fünfmal im Laufe der letzten Jahre wäre, der heutige Krieg schon um ein Haar ausgebrochen: im Sommer 1905, als Deutschland zum ersten Male in entscheidender Form seine Ansprüche in der Marokkosache anmeldete; im Sommer 1908, als England, Rußland und Frankreich nach der Monarchenbegegnung in Reval[1] wegen der makedonischen Frage ein Ultimatum an die Türkei stellen wollten und Deutschland sich bereitete, zum Schutz der Türkei sich in den Krieg zu stürzen, den nur der plötzliche Ausbruch der türkischen Revolution für diesmal verhindert hat[2]; im Anfang 1909, als Rußland die österreichische Annexion Bosniens mit einer Mobilmachung beantwortete, worauf Deutschland in Petersburg in aller Form erklärte, es sei bereit, auf Österreichs Seite in den Krieg zu ziehen;

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[1] Am 9. und 10. Juni 1908 fand in Reval eine Zusammenkunft des Zaren Nikolaus II. mit dem englischen König Eduard VII. statt, auf der die 1907 abgeschlossenen Verträge und die Übereinstimmung der Ansichten über die Lage in Persien, Afghanistan und Makedonien bekräftigt wurden.

Am 27. und 28. Juli 1908 kam in Reval der Präsident Frankreichs, A. Pallières, mit dem Zaren zusammen, um das russisch-französische Bündnis zu bekräftigen.

[2] „Auf seiten der deutschen Politik war man natürlich darüber unterrichtet, was geschehen sollte, und heute wird kein Geheimnis mehr mit der Tatsache verraten, daß wie andere europäische Flotten, so auch die deutschen Seestreitkräfte sich damals im Zustande unmittelbarer Kriegsbereitschaft befinden.“ (Rohrbach: Der Krieg in der deutschen Politik, S. 32.) [Hervorhebungen – R. L.] – [Fußnote im Original]