Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 105

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sitzungen Österreichs den nächstliegenden und bequemsten, weil populärsten Deckmantel seiner Expansionsgelüste, die sich bei der Neuordnung der Dinge auf dem Balkan vor allem auf die gegenüberliegende albanische Küste der Adria richten. Der Dreibund, der schon im Tripoliskrieg einen argen Stoß erlitten hatte, wurde durch die akute Krise auf dem Balkan seit den beiden Balkankriegen vollends ausgehöhlt und die beiden Zentralmächte in scharfen Gegensatz zu aller Welt gebracht. Deutschlands Imperialismus, gekettet an zwei verwesende Leichname, steuerte geraden Weges in den Weltkrieg.

Die Fahrt war übrigens ganz bewußt. Namentlich Österreich als treibende Kraft rannte mit fataler Blindheit schon seit Jahren ins Verderben. Seine herrschende klerikal-militärische Clique mit dem Erzherzog Franz Ferdinand und dessen Handlanger Baron von Chlumecký an der Spitze haschte förmlich nach Vorwänden, um loszuschlagen. Im Jahre 1909 ließ sie eigens zur Entfachung des nötigen Kriegsfurors in deutschen Landen von Prof. Friedmann die berühmten Dokumente fabrizieren, die eine weitverzweigte teuflische Verschwörung der Serben gegen die Habsburgische Monarchie enthüllten und nur den kleinen Fehler hatten, daß sie von A bis Z gefälscht waren. Einige Jahre später sollte die tagelang kolportierte Nachricht vom entsetzlichen Martyrium des österreichischen Konsuls Prochaska in Üchskübl wie der zündende Funke ins Pulverfaß fallen; unterdes Prochaska gesund und munter pfeifend in den Straßen von Üchsküb[1] spazierte. Endlich kam das Attentat von Sarajevo, ein lang ersehntes veritables empörendes Verbrechen. „Wenn je ein Blutopfer eine befreiende, eine erlösende Wirkung gehabt hat, so war es dieses”, jubelten die Wortführer der deutschen Imperialisten. Die österreichischen Imperialisten jubelten noch lauter und beschlossen, die erzherzoglichen Leichen zu benutzen, solange sie frisch waren.[2] Nach rascher Verständigung mit Berlin wurde der Krieg abgemacht und das Ultimatum als der Fidibus ausgesandt, der die kapitalistische Welt an allen Ecken anzünden sollte.

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[1] Während des ersten Balkankrieges waren im November 1912 Gerüchte aufgetaucht, daß es beim Einmarsch serbischer Truppen in die bis dahin unter türkischer Herrschaft stehende Stadt Prizren zu Auseinandersetzungen zwischen den einrückenden Truppen und dem dort amtierenden österreichisch-ungarischen Konsul Prochaska gekommen sei. Dabei soll der Konsul gefangengehalten und mißhandelt worden sein. Die österreichisch-ungarische Regierung hatte dies zum Anlaß für diplomatische Schritte gegenüber der serbischen Regierung genommen.

[2] Siehe Warum es der deutsche Krieg ist? S. 21. Das Organ der Clique des Erzherzogs, „Groß-Österreich“, schrieb Woche für Woche Brandartikel im folgenden Stil:

„Wenn man den Tod des Erzherzog-Thronfolgers Franz Ferdinand in würdiger und seinen Empfindungen Rechnung tragender Weise rächen will, dann vollstrecke man so rasch als möglich das politische Vermächtnis des unschuldigen Opfers einer unseligen Entwicklung der Verhältnisse Im Süden des Reiches.

Seit sechs Jahren warten wir schon auf die endliche Auslösung all der drückenden Spannungen, die wir in unserer ganzen Politik so überaus qualvoll empfinden.

Weil wir wissen, daß erst aus einem Krieg das neue und große Österreich, das glückliche, seine Völker befreiende Groß-Österreich geboren werden kann, darum wollen wir den Krieg.

Wir wollen den Krieg, weil es unsere innerste Überzeugung ist, daß nur durch einen Krieg in radikaler, plötzlicher Weise unser Ideal erreicht werden kann: ein starkes Groß-Österreich, in dem die österreichische Staatsidee, der österreichische Missionsgedanke, den Balkanvölkern die Freiheit und Kultur zu bringen, im Sonnenglanze einer großen, frohen Zukunft blüht.

Seitdem der Große tot ist, dessen starke Hand, dessen unbeugsame Energie Groß-Österreich über Nacht geschaffen hätte, seitdem erhoffen wir alles nurmehr vom Krieg.

Es ist die letzte Karte, auf die wir alles setzen!

Vielleicht führt die ungeheure Erregung, die in Österreich und Ungarn nach diesem Attentat gegen Serbien herrscht, zur Explosion gegen Serbien und im weiteren Verlauf auch gegen Rußland.

Erzherzog Franz Ferdinand hat als einzelner diesen Imperialismus nur vorbereiten, nicht durchsetzen können. Sein Tod wird hoffentlich das Blutopfer sein, das notwendig war, um die imperialistische Entflammung ganz Österreichs durchzuführen.“ – [Fußnote im Original]