Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 107

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im Sommer 1911, als der Panther nach Agadir entsandt wurde, was unbedingt den Ausbruch des Krieges herbeigeführt hätte, wenn Deutschland auf den Marokkoanteil nicht verzichtet und sich mit Kongo nicht hätte abfinden lassen; und endlich Anfang 1913, als Deutschland angesichts des beabsichtigten Einmarsches Rußlands in Armenien[1] zum zweitenmal in Petersburg in aller Form erklärte, kriegsbereit zu sein.

Derart hing der heutige Weltkrieg seit acht Jahren in der Luft. Wenn er immer wieder verschoben wurde, so nur deshalb, weil jedesmal eine der beteiligten Seiten mit den militärischen Vorbereitungen noch nicht fertig war. Namentlich war in dem „Panther”-Abenteuer 1911 schon der heutige Weltkrieg reif – ohne das ermordete Erzherzogpaar, ohne französische Flieger über Nürnberg und ohne russische Invasion in Ostpreußen. Deutschland hat ihn bloß auf einen für sich gelegeneren Moment verschoben. Auch hier braucht man nur die offenherzige Darlegung der deutschen Imperialisten zu lesen: „Wenn nun von der sogenannten alldeutschen Seite her während der Marokkokrisis von 1911 gegen die deutsche Politik der Vorwurf der Schwäche gemacht worden ist, so erledigt sich diese falsche Idee schon allein dadurch, daß, als wir den »Panther“ nach Agadir schickten, der Umbau des Nordostseekanals noch mitten im Werk, der Ausbau von Helgoland zu einer großen Seefestung lange nicht vollendet und unsere Flotte an Dreadnoughts und Hilfswaffen gegenüber der englischen Seemacht ein bedeutend ungünstigeres Verhältnis aufwies als drei Jahre nachher. Sowohl der Kanal als auch Helgoland, als auch die Flottenstärke waren im Vergleich zum gegenwärtigen Jahre, 1914, teils stark zurück, teils überhaupt noch nicht kriegsbrauchbar. In einer solchen Lage, wo man weiß, daß man etwas später sehr viel günstigere Chancen haben wird, den Entscheidungskrieg provozieren zu wollen, wäre doch einfach töricht gewesen.”[2] [Hervorhebung – R. L.] Erst mußten die deutsche Flotte instand gesetzt und die große Militärvorlage im Reichstag[3]

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[1] Die Türkei hatte sich bei Verhandlungen während des ersten Balkankrieges Im Dezember 1912 nicht bereit gezeigt, die Forderung der siegreichen Balkanländer zu erfüllen, auf die Stadt Adrianopel, die von Bulgarien beansprucht wurde, und auf die Inseln im Agäischen Meer zu verzichten. Daraufhin drohte Rußland, das besonders für Bulgarien eintrat und am Schicksal Adrianopels interessiert war, seine Neutralität aufzugeben, und zog Truppen an der Kaukasusgrenze zusammen. Zur Unterstützung der türkischen Regierung ließ Deutschland in Petersburg erklären, ein militärisches Vorgehen Rußlands gegen die Türkei werde als „Bedrohung des europäischen Friedens” betrachtet. Dadurch ermuntert, begann die im Januar 1913 wieder an die Macht gelangte dungtürkische Regierung erneut die Kampfhandlungen, erlitt aber wiederum eine Niederlage.

[2] Rohrbach: Der Krieg und die deutsche Politik, S. 41. – [Fußnote im Original]

[3] Ende März 1913 war im Reichstag eine Militär- und Deckungsvorlage eingebracht worden, die die größte Heeresverstärkung seit Bestehen des Deutschen Reiches vorsah. Ein Teil der zusätzlich benötigten finanziellen Mittel sollte durch einen außerordentlichen Wehrbeitrag und durch Besteuerung aller Vermögen über 10 000 Mark aufgebracht, der übrige Teil auf die Schultern der werktätigen Bevölkerung abgewälzt werden. Am 30. Juni 1913 wurde die Militär- und Deckungsvorlage im Reichstag angenommen.