Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 103

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mengesetzt, diese Nationalitäten nur mit der Fuchtel der Diktaturparagraphen zu regieren weiß, es ist klar, daß dadurch die Zersetzung der ohnehin zerrütteten Monarchie beschleunigt werden mußte. Die innere Lebensunfähigkeit Österreichs zeigte sich gerade in seiner Balkanpolitik und besonders im Verhältnis zu Serbien. Österreich war, trotz seiner imperialistischen Appetite, die sich wahllos bald auf Saloniki, bald auf Durazzo warfen, nicht etwa in der Lage, Serbien zu annektieren, auch als dieses noch nicht den Zuwachs an Kraft und Umfang durch die beiden Balkankriege erfahren hatte. Durch die Einverleibung Serbiens hätte Österreich in seinem Innern eine von den widerspenstigen südslawischen Nationalitäten in gefährlicher Weise gestärkt, die es durch das brutale und stumpfsinnige Regime seiner Reaktion ohnehin kaum zu zügeln vermag.[1] Österreich kann aber auch nicht die selbständige normale Entwicklung Serbiens dulden und von ihr durch normale Handelsbeziehungen profitieren, weil die Habsburgische Monarchie nicht die politische Organisation eines bürgerlichen Staates, sondern bloß ein lockeres Syndikat einiger Cliquen gesellschaftlicher Parasiten ist, die mit vollen Händen unter Ausnutzung der staatlichen Machtmittel raffen wollen, solange der morsche Bau der Monarchie noch hält. Im Interesse der ungarischen Agrarier und der künstlichen Teuerung landwirtschaftlicher Produkte verbot Österreich also Serbien die Einfuhr von Vieh und Obst und schnürte so dem Bauernlande den Hauptabsatz seiner Produkte ab. Im Interesse der österreichischen Kartellindustrie zwang es Serbien, Industrieerzeugnisse zu höchsten Preisen nur aus Österreich zu beziehen. Um Serbien in wirtschaftlicher und politischer Abhängigkeit zu erhalten, verhinderte es Serbien, sich im Osten durch ein Bündnis mit Bulgarien den Zutritt zum Schwarzen Meer und im Westen durch Erwerbung eines Hafens in Albanien den Zutritt zum Adriatischen Meer zu verschaffen. Die Balkanpolitik Österreichs zielte also einfach auf die Erdrosselung Serbiens. Sie war aber zugleich auf Verhinderung jeder gegenseitigen Annäherung und des inneren Aufschwungs

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[1] Die „Kölnische Zeitung” schrieb nach dem Attentat von Sarajevo, also am Vorabend des Krieges, die Karten der offiziellen deutschen Politik noch nicht aufgedeckt waren:

„Der in die Verhältnisse Uneingeweihte wird die Frage stellen, woher es komme, daß Österreich trotz seiner Bosnien erwiesenen Wohltaten im Lande nicht nur nicht beliebt, sondern geradezu verhaßt ist bei den Serben, die 42 % der Bevölkerung ausmachen? Die Antwort wird nur der wirkliche Kenner des Volkes und der Verhältnisse verstehen, der Fernstehende, namentlich der an europäische Begriffe und Zustände Gewöhnte, wird ihr verständnislos gegenüberstehen. Die Antwort lautet klipp und klar: Die Verwaltung Bosniens war in der Anlage und in ihren Grundideen vollkommen verpfuscbt, und daran trägt die geradezu sträfliche Unkenntnis die Schuld, welche zum Teil noch heute, ouch mehr als einem Menschenalter (seit der Okkupation), über die wirklichen Zustände im Lande herrscht.” – [Fußnote im Original]