Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 100

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-4/seite/100

land der Weg zu großen Unternehmungen im Osten vorerst verlegt, und seine Energie wendete sich um so kräftiger dem alten Ziel – der Balkanpolitik zu. Hier war es nun, daß das zarische Rußland zum ersten Male seit einem Jahrhundert treuer und gutfundierter Freundschaft mit der deutschen Kultur in einen schmerzlichen Gegensatz zu ihr geraten war. Der Weg zu den Dardanellen führt über die Leiche der Türkei, Deutschland betrachtete aber seit einem Jahrzehnt die „Integrität” dieser Leiche als seine vornehmste weltpolitische Aufgabe. Freilich hat die Methode in der russischen Balkanpolitik schon verschiedentlich gewechselt, und auch Rußland hat eine Zeitlang – erbittert durch den „Undank” der befreiten Balkanslawen, die sich der Vasallität beim Zarenreich zu entwinden suchten – das Programm der „Integrität” der Türkei vertreten, auch mit demselben stillschweigenden Vorbehalt, daß die Aufteilung auf günstigere Zeiten verschoben werden müsse. Jetzt aber paßte die endliche Liquidation der Türkei in die Pläne Rußlands sowohl wie der englischen Politik, die ihrerseits zur Stärkung der eigenen Position in Indien und Ägypten die dazwischen liegenden türkischen Gebiete – Arabien und Mesopotamien – zu einem großen mohammedanischen Reich unter britischem Zepter zu vereinigen strebt. So geriet im Orient der russische Imperialismus, wie früher schon der englische, auf den deutschen, der in der Rolle des privilegierten Nutznießers der türkischen Zersetzung als ihre Schildwache am Bosporus Posto gefaßt hatte.[1]

Nächste Seite »



[1] Im Januar 1908 schrieb nach der deutschen Presse der russische liberale Politiker Peter von Struve: „Jetzt ist es Zeit auszusprechen, daß es nur einen Weg gibt, ein großes Rußland zu schaffen, und der ist: die Hinlenkung aller Kräfte auf ein Gebiet, das der realen Einwirkung der russischen Kultur zugänglich ist. Dieses Gebiet ist das ganze Becken des Schwarzen Meeres, d. h. alle europäischen und asiatischen Länder, die einen Ausgang zum Schwarzen Meer haben. Hier besitzen wir für unsre unanfechtbare wirtschaftliche Herrschaft eine wirkliche Basis: Menschen, Steinkohle und Eisen. Auf dieser realen Basis – und nur auf ihr – kann durch unermüdliche Kulturarbeit, die nach allen Richtungen hin vom Staat unterstützt werden muß, ein wirtschaftlich starkes Großrußland geschaffen werden.”

Bei Beginn des heutigen Weltkrieges schrieb derselbe Struve noch vor dem Eingreifen der Türkei: „Bei den deutschen Politikern taucht eine selbständige türkische Politik auf, die sich zu der Idee und dem Programm der Ägyptisierung der Türkei unter dem Schutze Deutschlands verdichtete. Der Bosporus und die Dardanellen sollten sich in ein deutsches Suez verwandeln. Schon vor dem italienisch-türkischen Krieg, der die Türkei aus Afrika verdrängte, und vor dem Balkankrieg, der die Türken fast aus Europa hinauswarf, tauchte für Deutschland deutlich die Aufgabe auf: die Türkei und ihre Unabhängigkeit im Interesse der wirtschaftlichen und politischen Festigung Deutschlands zu erhalten. Nach den erwähnten Kriegen änderte sich diese Aufgabe nur insofern, als die äußerste Schwäche der Türkei zutage getreten war; unter diesen Umständen mußte ein Bündnis de facto in ein Protektorat oder eine Bevormundung ausarten, die das Ottomanische Reich schließlich auf das Niveau Ägyptens bringen mußte. Es ist aber vollkommen klar, daß ein deutsches Ägypten am Schwarzen und am Marmara-Meer vom russischen Standpunkt aus völlig unerträglich ware. Kein Wunder daher, daß die russische Regierung sofort gegen die auf eine solche Politik hinzielenden Schritte, so gegen die Mission General Liman von Sanders, protestierte, der nicht nur die türkische Armee reorganisieren, sondern auch ein Armeekorps in Konstantinopel befehligen sollte. Formell erhielt Rußland in dieser Frage Genugtuung, in Wirklichkeit aber änderte sich die Sachlage nicht im geringsten. Unter diesen Umständen stand im Dezember 1913 ein Krieg zwischen Rußland und Deutschland in unmittelbarer Näbe: Der Fall der Militärmission Liman von Sanders’ hatte die auf die ,Ägyptisierung’ der Türkei gerichtete Politik Deutschlands aufgedeckt.

Schon diese neue Richtung der deutschen Politik hätte ausgereicht, um einen bewallneten Konflikt zwischen Deutschland und Rußland hervorzurufen. Wir traten also im Dezember 1913 in eine Epoche der Heranreifung eines Konfliktes ein, der unvermeidlich den Charakter eines Weltkonflikts annehmen mußte.” – [Fußnote im Original]