Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 79

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einander überstürzenden Flottenvorlagen der Jahre 1898 und 1899, die in beispielloser Weise eine plötzliche Verdoppelung der Schlachtflotte, einen gewaltigen, nahezu auf zwei Jahrzehnte berechneten Bauplan der Seerüstungen bedeuteten.[1] Dies war nicht bloß eine weitgreifende Umgestaltung der Finanzpolitik und der Handelspolitik des Reiches – der Zolltarif des Jahres 1902[2] war nur der Schatten, der den beiden Flottenvorlagen folgte – in weiterer logischer Konsequenz der Sozialpolitik und der ganzen inneren Klassen- und Parteiverhältnisse. Die Flottenvorlagen bedeuteten vor allem einen demonstrativen Wechsel im Kurs der auswärtigen Politik des Reiches, wie sie seit der Reichsgründung maßgebend war. Während die Bismarcksche Politik auf dem Grundsatz basierte, daß das Reich eine Landmacht sei und bleiben müsse, die deutsche Flotte aber höchstens als überflüssiges Requisit der Küstenverteidigung gedacht war – erklärte doch der Staatssekretär Hollmann selbst im März 1897 in der Budgetkommission des Reichstags: „Für den Küstenschutz brauchen wir gar keine Marine; die Küsten schützen sich von selbst „ –, wurde jetzt ein ganz neues Programm aufgestellt: Deutschland sollte zu Lande und zur See die erste Macht werden. Damit war die Wendung von der Bismarckschen kontinentalen Politik zur Weltpolitik, von der Verteidigung zum Angriff als Ziel der Rüstungen gegeben. Die Sprache der Tatsachen war so klar, daß im deutschen Reichstag selbst der nötige Kommentar geliefert wurde. Der damalige Führer des Zentrums, Lieber, sprach schon am 11. März 1896, nach der bekannten Rede des Kaisers beim fünfundzwanzigjährigen Jubiläum des Deutschen Reiches, die als Vorbote der Flottenvorlagen das neue Programm entwickelt hatte[3], von „uferlosen Flottenplänen”, gegen die man sich entschieden verwahren müsse. Ein anderer Zentrumsführer, Schaedler, rief im Reichstag am 23. März 1898 bei der ersten Flottenvorlage: „Das Volk hat die Anschauung, wir können nicht die erste Macht zu Lande und die erste Macht zur See sein. Wenn mir

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[1] Am 28. März 1898 war vom Reichstag die erste Flottenvorlage angenommen worden, wonach die deutsche Kriegsflotte bis 1904 mit einem Kostenaufwand von etwa 482 Millionen Mark wesentlich vergrößert werden sollte. Damit begann der deutsche Imperialismus das Wettrüsten zur See, das zur Verschärfung des Gegensatzes zwischen dem deutschen und dem englischen Imperialismus führte. Das im Juni 1900 beschlossene zweite Flottengesetz sah die Verdoppelung der in der Flottenvorlage von 1898 vorgesehenen Schlachtflotte vor.

[2] Der am 14. Dezember 1902 im Reichstag beschlossene und 1906 in Kraft getretene Zolltarif sah stark erhöhte Tarife für alle eingeführten Waren, vor allem landwirtschaftliche Produkte, vor. Dadurch stiegen die Lebenshaltungskosten sprunghaft an.

[3] Wilhelm II. hatte am 18. Januar 1896 bei einem Festmahl anläßlich des 25jährigen Bestehens des Deutschen Reiches unter dem Vorwand, die in überseeischen Gebieten lebenden Deutschen und die Handelsflotte schützen sowie die Kolonien fester an das Reich binden zu müssen, indirekt erhöhte Mittel zur weiteren Aufrüstung gefordert.