Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 61

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der letzte Krieg, dann soll er die Götterdämmerung des Kapitalismus werden.” (Frankfurter „Volksstimme”)

Noch am 30. Juli 1914 rief das Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie:

„Das sozialistische Proletariat lehnt jede Verantwortung für die Ereignisse ab, die eine bis zum Aberwitz verblendete herrschende Klasse heraufbeschwört. Es weiß, daß gerade ihm neues Leben aus den Ruinen blühen wird. Alle Verantwortung fällt auf die Machthaber von heute!

Für sie handelt es sich um Sein oder Nichtsein!

Die Weltgeschichte ist das Weltgericht!”[1]

Und dann kam das Unerhörte, das Beispiellose, der 4. August 1914.

Ob es so kommen mußte? Ein Geschehnis von dieser Tragweite ist gewiß kein Spiel des Zufalls. Es müssen ihm tiefe und weitgreifende objektive Ursachen zugrunde liegen. Aber diese Ursachen können auch in Fehlern der Führerin des Proletariats, der Sozialdemokratie, im Versagen unseres Kampfwillens, unseres Muts, unserer Überzeugungstreue liegen. Der wissenschaftliche Sozialismus hat uns gelehrt, die objektiven Gesetze der geschichtlichen Entwicklung zu begreifen. Die Menschen machen ihre Geschichte nicht aus freien Stücken. Aber sie machen sie selbst. Das Proletariat ist in seiner Aktion von dem jeweiligen Reifegrad der gesellschaftlichen Entwicklung abhängig, aber die gesellschaftliche Entwicklung geht nicht jenseits des Proletariats vor sich, es ist in gleichem Maße ihre Triebfeder und Ursache, wie es ihr Produkt und ihre Folge ist. Seine Aktion selbst ist mitbestimmender Teil der Geschichte. Und wenn wir die geschichtliche Entwicklung sowenig überspringen können wie der Mensch seinen Schatten, so können wir sie doch beschleunigen oder verlangsamen.

Der Sozialismus ist die erste Volksbewegung der Weltgeschichte, die sich zum Ziel setzt und von der Geschichte berufen ist, in das gesellschaftliche Tun der Menschen einen bewußten Sinn, einen planmäßigen Gedanken und damit den freien Willen hineinzutragen. Darum nennt Friedrich Engels den endgültigen Sieg des sozialistischen Proletariats einen Sprung der Menschheit aus dem Tierreich in das Reich der Freiheit. Auch dieser „Sprung” ist an eherne Gesetze der Geschichte, an tausend Sprossen einer vorherigen qualvollen und allzu langsamen Entwicklung gebunden. Aber er kann nimmermehr vollbracht werden, wenn aus all dem von der Entwicklung zusammengetragenen Stoff der materiellen Vorbedingungen nicht der zündende Funke des bewußten Willens der großen Volksmasse aufspringt. Der Sieg des Sozialismus wird nicht wie ein Fatum vom Him-

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[1] Vor der Katastrophe. In: Vorwärts (Berlin), Nr. 205 vom 30. Juli 1914.