Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 476

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-4/seite/476

der erstarrenden Hypnose des Kriegstaumels dem siegreichen Dahinstürmen des Imperialismus teilnahmslos oder gar jubelnd zuschauten, als über der Partei nach dem Selbstmord des 4. August bleierne Friedhofsruhe lag, die ersten Versammlungen in Berliner Vororten – in Steglitz, Mariendorf, Charlottenburg, Neukölln – aus, die ersten Konferenzen in Stuttgart, Frankfurt a. M„ Leipzig, die ersten Signale zur Sammlung gegen die offizielle Partei, die ersten Auseinandersetzungen Auge in Auge mit den Verrätern des Sozialismus und der Internationale.

Auf der Tribüne des Reichstages, in der Zeitschrift „Internationale”, in der Junius-Broschüre[1], in Flugblättern focht die kleine Schar unter dem Belagerungszustand und der Säbeldiktatur unermüdlich, um die Ehre des deutschen Proletariats zu retten, die Massen aufzurütteln, den heiligen Funken des revolutionären Idealismus zum Brand zu entfachen.

Verfolgungen hagelten dicht auf die Störenfriede herab. Einer nach dem andern verschwanden sie für Jahre von der Bildfläche, bevölkerten Gefängnisse und Zuchthäuser oder wurden aus Betrieben in den Schützengraben verschickt. Doch blieb auch nur einer noch frei, gleich sammelte sich die Schar von neuem, gleich ging die unterirdische Arbeit weiter, die zähe Maulwurfsarbeit, die den starren Bau des Imperialismus unterminieren sollte.

Und die Bande mit der proletarischen Masse knüpften sich immer weiter, immer fester. Während die Unabhängigen sich nach zwei Jahren des geduldigen Zusammenwirkens mit den Judassen der Arbeiterbewegung zögernd und schwankend von ihnen trennten[2], um die morschen, bankrotten Traditionen der alten Sozialdemokratie und ihres parlamentarischen Scheindaseins hartnäckig fortzusetzen, bahnten die Spartakusleute der neuen, revolutionären Taktik: der außerparlamentarischen Massenaktion, den Weg, mahnten und riefen unermüdlich zu den Massenstreiks auf, bis die ersten Erfolge das Selbstvertrauen, den Kampfmut der Arbeiterschaft gestärkt und gehoben hatten.

Nach jedem Anlauf fielen und glätteten sich die kaum bewegten Wogen des Kampfes, eine tödliche, bleierne Windstille nahm scheinbar wieder von den Geistern der Masse Besitz. Es gehörte ein eiserner Wille dazu und ein Glaube, der Berge versetzt, um in diesen viereinviertel Jahren nicht für einen Tag zu erlahmen, nicht das rastlose Minierwerk im Stiche zu lassen, nicht in den bequemen Pessimismus über die „deutschen Massen” zu verfallen, der den Unabhängigen als billiger Vorwand ihrer eigenen Indolenz diente.

Nächste Seite »



[1] Siehe Rosa Luxemburg: Die Krise der Sozialdemokratie. In: GW, Bd. 4, S. 51–164.

[2] Im Reichstag hatten am 24. März 1916 außer Karl Liebknecht und Otto Rühle 18 sozialdemokratische Abgeordnete gegen den Notetat der Regierung gestimmt. In der folgenden Fraktionssitzung wurden die 18 Abgeordneten aus der sozialdemokratischen Fraktion ausgeschlossen. Sie bildeten daraufhin als „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft” eine eigene Reichstagsfraktion. Karl Liebknecht war schon am 12. Januar 1916 aus der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ausgeschlossen worden, Otto Rühle aus Solidarität mit Liebknecht am 14. Januar aus der Fraktion ausgetreten. – Auf einer Konferenz der Parteiopposition in Gotha vom 6. bis 8. April 1917 wurde die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands gegründet. Trotz grundsätzlicher Meinungsverschiedenheiten mit der USPD-Führung schloß sich die Gruppe „Internationale” (Spartakusgruppe) der USPD an, wobei sie sich ihre politisch-ideologische Selbständigkeit und eine eigene organisatorische Tätigkeit vorbehielt.