Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 451

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Wundern, die der 9. November gebracht habe, das Geschäft der Revolution beendet sei. Sie alle sind heute wieder sehend geworden. Denn sie, die geglaubt hatten, daß die alten historischen Mächte, daß die herrschenden Klassen einer jahrtausendealten Herrschaft könnten entsetzt werden durch jubelnde Menschenmassen, winkende Soldaten und flatternde rote Fahnen unter den Linden: sie alle müssen heute sehen, wie die Gegenrevolution, der Kapitalismus wieder zum Leben kommt. Er hatte sich in jenen Tagen, der Wanze gleich, nur totgestellt. Schon aber scheint ihm die Zeit und die Möglichkeit gegeben, von neuem Blut zu saugen.

Die Machenschaften der Gegenrevolution liegen klar zutage. Sie setzten ein schon mit der Stunde, als es ihr gelang, die Ebert–Scheidemann als ihre Agenten in die Regierung zu delegieren, und damit deren ganze revolutionäre Energie zu lähmen und deren politische Energie zu leiten auf die Pfade der Gegenrevolution.

Was hat nicht diese „sozialistische” Regierung geleistet) Tag um Tag ein Erlaß: ein Erlaß, der die alten Behördenorganisationen wiederherstellte; ein Erlaß, der versuchte, alle fortgejagten Landräte und Polizeipräsidenten und Bürgermeister wiederherzustellen; ein Erlaß, der das Privateigentum für unantastbar erklärte; ein Erlaß, der die Gerichte, die Organe der Klassenjustiz, für „unabhängig” erklärte, ihnen den Freibrief gab für fernere Klassenjustiz; ein Erlaß, der befahl, die Steuer zu zahlen wie bisher. Nulla dies sine linea, kein Tag ohne Erlaß, der nicht ein Steinchen, das aus dem Gebäude morscher Kapitalistenherrschaft zu fallen drohte, wieder festmauerte.

Wer wollte es der Bourgeoisie verargen, daß sie unter ihr so erfreulichen Umständen sich stark genug fühlt zu versuchen, ihre Agenten, die Regierung Ebert–Scheidemann–Haase, zu beseitigen und selbst die ihr verlorengegangenen Zügel wieder in die Hand zu bekommen? In ruhigem Tempo, Schritt für Schritt geht sie vor. Erst hat sie ihre Agenten dafür gewonnen, auf dem Umweg über die Nationalversammlung ihr die Macht wieder in die Hände zu spielen. Mit dem Feuereifer der Renegaten stürzten sich die Ebert–Scheidemann in ihre Aufgabe: Sie arbeiteten für die Nationalversammlung Tag und Nacht, auf allen Straßen und Plätzen, sie mühten sich für die Bourgeoisie nach allen Kräften, sie veranstalteten Putsche und ließen Proletarier niederschießen, sie huldigten vor Militärs und salutierten der schwarzweißroten Fahne – und haben sich mit alledem den Dank der Brotherren, des Kapitalismus, doch nicht verdient.

Der Herr ist ungeduldig geworden, er ist des Dieners müde, die Zeit

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