Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 430

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würdig an die Seite seines Herrn Friedrich Ebert: Hat jener versucht, die Revolution mit Herrn Wilson Hand in Hand durch Hunger körperlich zu töten, so sucht der „Vorwärts” sie geistig zu meucheln, indem er vor den Massen jene eherne Tafel wieder aufrichtet, die die Bourgeoisie und jede herrschende Klasse seit Jahrtausenden den Unterdrückten entgegenhielt und auf der geschrieben stand: „Ihr seid nicht reif; ihr könnt es nie werden, eine ,innere Unmöglichkeit’; ihr brauchet Führer; die Führer sind wir.”

Sie haben sich jetzt glücklich zur Staatsphilosophie der Reaktionäre aller Zeiten und Länder hinüberentwickelt, und dieses Schauspiel wird nicht gefälliger dadurch, daß derselbe „Vorwärts”, just zwölf Stunden, nachdem er in einem Leitartikel das geistige Hintersassentum der Massen „philosophisch” für eine Ewigkeitserscheinung erklärt hat, in einem demagogischen Gezänk gegen ein Vollzugsratmitglied an Scham, Ehre und Gewissen appelliert, weil dies davon gesprochen habe, „die Massen seien noch nicht reif”[1], und daß der ,,Vorwärts” demselben Soldatenrat, wiederum einen Tag später, das Zeugnis der Reife ausstellt, weil er einen Beschluß gefaßt hat, der dem „Vorwärts” in den Kram paßt[2]. Seine, des „Vorwärts” Schamlosigkeit wird durch die Heuchelei nicht besser.

Kein Proletariat der Welt, auch nicht das deutsche, kann die Spuren einer jahrtausendelangen Knechtung von heute auf morgen, die Spuren der Fesseln, die die Herren Scheidemann und Konsorten an sie gelegt, im Umdrehen beseitigen. Sowenig wie die politische hat die geistige Verfassung des Proletariats am ersten Tage der Revolution ihren höchsten Stand. Erst die Kämpfe der Revolution werden in jedem Sinne das Proletariat zur vollen Reife erheben.

Der Beginn der Revolution war das Zeichen, daß jener Reifeprozeß beginnt. Er wird rasch fortschreiten, und der „Vorwärts” hat einen guten Maßstab, an dem er den Eintritt der Vollreife feststellen kann. An dem Tage, an dem seine Redakteure von ihren Sitzen und nebst Herrn Scheidemann, Ebert, David und Konsorten dahin fliegen, wo der Hohenzoller oder wo Ludendorff sitzt – an dem Tage ist die Vollreife eingetreten.

Die Rote Fahne (Berlin),

Nr. 18 vom 3. Dezember 1918.

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[1] Siehe Friedrich Stampfer: Die Wahlen zur Nationalversammlung. In: Abend-Vorwärts, Nr. 329a vom 30. November 1918.

[2] Siehe Die Soldaten für die Nationalversammlung. In: Vorwärts, Nr. 330 vom 1. Dezember 1918. – Die Tagung der Großberliner Soldatenräte hatte sich am 29. November 1918 bei zwei Gegenstimmen für die Nationalversammlung und ihre Einberufung zum 16. Februar 1919 ausgesprochen.