Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 428

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die gewaltigen Aufgaben, die sie lösen sollen. Wir halten es mit dem Worte, daß man die großen Dinge nur mit Begeisterung vollbringen könne.

Dem „Vorwärts” gefiel es anders. Da sitzt ein Redakteurchen irgendwo in einem Schreibsessel der „Vorwärts”-Redaktion und fragt im Tone des Biedermannes, der allen Roßtäuschern eigentümlich ist: „Hand aufs Herz! Glaubt Ihr, daß eine Versammlung wie die gestrige berufen und imstande ist, über die Geschicke unseres Volkes ein entscheidendes Wort zu sprechen?”[1]

Nachdem mit dieser rhetorischen Frage der Versammlung das Urteil gesprochen worden ist, versäumt der „Vorwärts” nicht, seine alten Hebammenmittelchen in empfehlende Erinnerung zu bringen. Da ist erstens: Regel und Ordnung. Nachdem alle Spenden dieser segensreichen Himmelstochter gebührend gepriesen sind, wird das zweite Rezept verabreicht: politische und parlamentarische Schulung.

Wir haben die erfreulichen Früchte der politischen und parlamentarischen Schulung für die Arbeiterklasse schon zu oft geschildert, als daß wir sie heute wieder abmalen wollten – man schaue auf die „revolutionären” Errungenschaften dieser sozialistischen Regierung in drei Wochen Revolution, und man sehe auf die von Herrn Ebert, dem „politisch und parlamentarisch Geschulten”, vollbrachten Taten in seinem Handel mit Wilson.[2] Da hat man der „politischen und parlamentarischen Schulung” genug.

Aber der „Vorwärts” hat nicht genug. Die eine Versammlung der Soldatenräte in Berlin, die seinem „politisch und parlamentarisch geschulten” Geschmack nicht zusagt, gibt ihm die Veranlassung, den Fall ins allgemeine zu ziehen und weiter zu folgern: „Hat man Vorgänge wie die gestrigen erlebt, so begreift man aufrichtig, was für ein niederträchtiger Volksbetrug die von Narren gerühmte russische Sowjetregierung ist. Unsere Arbeiter und Soldaten sind – das darf wohl ohne nationalistische Überhebung ausgesprochen werden – den russischen an allgemeiner Bildung und politischer Schulung turmhoch überlegen. Wenn das System der Räteverfassung bei uns scheitert, so ist das der beste Beweis dafür, daß auch in dem gebildetsten und intelligentesten Volk dieses System undurchführbar ist, weil es eben eine ,innere Unmöglichkeitist.”[3] Womit also, „ohne nationalistische Überhebung”, zwei Feststellungen getroffen sind:

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[1] Nur die Demokratie kann uns retten) In: Abend-Vorwärts (Berlin), Nr. 328a vom 29. November 1918.

[2] Friedrich Ebert hatte durch eine Depesche die Regierung der USA veranlaßt, amerikanische Lebensmittellieferungen nur unter der Bedingung zuzusagen, daß in Deutschland die Macht der Arbeiter- und Soldatenräte beseitigt wird und die kapitalistische Gesellschaftsordnung gesichert bleibt.

[3] Nur die Demokratie kann uns retten! In: Abend-Vorwärts, Nr. 328a vom 29. November 1918.