Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 424

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gigen einen grundsätzlichen Grenzrain zu ziehen. Jede schillernde Zweideutigkeit, die zur Verwirrung der Massen führte: Verständigungsfrieden, Völkerbund, Abrüstung, Wilson-Kultus, alle die Phrasen der bürgerlichen Demagogie, die über die nackten, schroffen Tatsachen der revolutionären Alternative während des Krieges verdunkelnde Schleier breiteten, fanden ihre eifrige Unterstützung. Die ganze Haltung der Partei pendelte hilflos um den Kardinalwiderspruch, daß sie einerseits die bürgerlichen Regierungen als die berufenen Mächte fortgesetzt zum Friedensschluß geneigt zu machen suchte, andererseits der Massenaktion des Proletariats das Wort redete.

Ein getreuer Spiegel der widerspruchsvollen Praxis ist die eklektische Theorie: ein Sammelsurium radikaler Formeln mit rettungsloser Preisgabe des sozialistischen Geistes. Die Losung der Landesverteidigung im rein bürgerlichen Sinne gepaart mit der Entdeckung des theoretischen Führers der Partei, daß die Internationale nur ein Instrument des Friedens, kein Kampfmittel gegen den Krieg sei[1], lief auf die blanke Begründung der Politik der Scheidemänner hinaus.

Bis zum Ausbruch der Revolution war es eine Politik von Fall zu Fall, ohne geschlossene Weltanschauung, die Vergangenheit und Zukunft der deutschen Sozialdemokratie aus einer Lichtquelle beleuchtet, die für die großen Linien der Entwicklung einen Blick gehabt hätte.

Eine derart beschaffene Partei, plötzlich vor die geschichtlichen Entscheidungen der Revolution gestellt, mußte jämmerlich versagen. Der Granit des Fundaments, der Stürme ebenso unerschütterlich besteht wie laue Perioden der Windstille, der Stahl des Entschlusses, der in großen Augenblicken den Funken der Tat erzeugt, sie waren nicht da. Eine Flugsanddüne, das ist alles, was die Unabhängige Sozialdemokratie dem Ansturm der Geschehnisse zu bieten hatte.

Und ihre Politik, ihre Taktik, ihre Grundsätze zerstoben wie Flugsand. Nachdem sie vier Jahre lang während des Krieges von der Brandmarkung der Scheidemann–Ebert als der Verräter des Sozialismus und der Internationale, als des Schandflecks und des Verderbs der Arbeiterbewegung lebte, war ihre erste Tat nach Ausbruch der Revolution, sich mit Scheidemann–Ebert zu einer gemeinsamen Regierung zu verbinden und diese Prostitution eigener Grundsätze als „rein sozialistische” Politik zu proklamieren.[2] In der Stunde, die endlich die sozialistischen Endziele zur prak-

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[1] Siehe dazu Rosa Luxemburg: Der Wiederaufbau der Internationale. In: GW, Bd. 4, S. 20–23.

[2] Am 10. November 1918 war der Rat der Volksbeauftragten, in den neben Friedrich Ebert, Otto Landsberg und Philipp Scheidemann von der SPD, Emil Barth, Wilhelm Dittmann und Hugo Haase von der USPD eingetreten waren, von der Vollversammlung der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte als provisorische Regierung bestätigt worden.