Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 420

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Schema des parlamentarischen Kretinismus auf. Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiterklasse selbst sein, heißt es im Kommunistischen Manifest. Und „Arbeiterklasse”, das sind nicht ein paar hundert gewählte Vertreter, die durch Rede und Widerrede die Geschicke der Gesellschaft lenken, das sind noch weniger die zwei oder drei Dutzend Führer, die Regierungsämter besetzen. Arbeiterklasse, das ist die breiteste Masse selbst. Nur durch ihre tätige Mitwirkung an dem Umsturz des Kapitalsverhältnisses kann die Sozialisierung der Wirtschaft vorbereitet werden.

Statt auf die beglückenden Dekrete der Regierung der die Beschlüsse der famosen Nationalversammlung zu warten, greift die Masse instinktiv zu dem einzigen wirklichen Mittel, das zum Sozialismus führt: zum Kampf gegen das Kapital. Die Regierung hat bis jetzt alle Mühe darauf verwendet, die Revolution zu einer politischen zu kastrieren, unter dem Geschrei gegen jede Bedrohung der „Ordnung und Ruhe” die Harmonie der Klassen zu errichten.

Die Masse des Proletariats wirft ruhig das Kartenhaus der revolutionären Klassenharmonie um und schwingt das gefürchtete Banner des Klassenkampfes.

Die beginnende Streikbewegung ist ein Beweis, daß die politische Revolution in das soziale Fundament der Gesellschaft eingeschlagen hat. Die Revolution besinnt sich auf ihren eigenen Urgrund, sie schiebt die papierne Kulisse von Personenveränderungen und Erlassen, die an dem sozialen Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit noch nicht das allergeringste geändert haben, beiseite und betritt selbst die Bühne der Geschehnisse.

Die Bourgeoisie fühlt wohl, daß hier ihre sterblichste Stelle berührt wird, daß hier der Spaß der Regierungsharmlosigkeiten aufhört und der furchtbare Ernst der Auseinandersetzung zweier Todfeinde von Angesicht zu Angesicht beginnt. Daher die bleiche Angst und die heisere Wut gegen die Streiks. Daher die fieberhaften Bemühungen der abhängigen Gewerkschaftsführer, den heraufziehenden Orkan in die Netze ihrer alten bürokratisch-instanzlichen Mittelchen zu fangen und die Masse zu lähmen und zu fesseln.

Vergebliche Mühe! Die kleinen Fesseln der gewerkschaftlichen Diplomatie im Dienste der Kapitalsherrschaft haben sich in der Periode der politischen Stagnation, die dem Weltkriege voraufgegangen ist, trefflich bewährt. In der Periode der Revolution werden sie elend versagen. Schon jede bürgerliche Revolution der Neuzeit war von einer stürmischen Streikbewegung begleitet: sogut in Frankreich am Ausgang des 18. Jahrhunderts,

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