Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 409

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Was gewinnt man also durch diesen feigen Umweg der Nationalversammlung? Man stärkt die Position der Bourgeoisie, man schwächt und verwirrt durch leere Illusionen das Proletariat, man verzettelt und verliert Zeit und Kraft auf „Diskussionen” zwischen Wolf und Lamm, man arbeitet mit einem Wort all denjenigen Elementen in die Hand, deren Zweck und Absicht es ist, die proletarische Revolution um ihre sozialistischen Ziele zu betrügen, sie zu einer bürgerlich-demokratischen Revolution zu entmannen.

Aber die Frage der Nationalversammlung ist keine Opportunitätsfrage, keine Frage der größeren „Bequemlichkeit”. Sie ist eine Prinzipienfrage, eine Frage der sozialistischen Selbsterkenntnis der Revolution.

In der Großen Französischen Revolution war der erste entscheidende Schritt im Juli 1789 damit getan, daß sich die drei getrennten Stände zu einer gemeinsamen Nationalversammlung vereinigten. Dieser Beschluß hat dem ganzen weiteren Gang der Ereignisse den Stempel aufgedrückt, er war das Symbol des Sieges einer neuen, bürgerlichen Gesellschaftsordnung über die mittelalterliche feudale Ständegesellschaft.

Genauso ergibt sich als Symbol der neuen, sozialistischen Gesellschaftsordnung, deren Trägerin die jetzige proletarische Revolution ist, des Klassencharakters ihrer eigentlichen Aufgabe auch der Klassencharakter des politischen Organs, das die Aufgabe durchführen soll: das Arbeiterparlament, die Vertretung des Stadt- und Landproletariats.

Die Nationalversammlung ist ein überlebtes Erbstück bürgerlicher Revolutionen, eine Hülse ohne Inhalt, ein Requisit aus den Zeiten kleinbürgerlicher Illusionen vom „einigen Volk”, von der „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit” des bürgerlichen Staates.

Wer heute zur Nationalversammlung greift, schraubt die Revolution bewußt oder unbewußt auf das historische Stadium bürgerlicher Revolutionen zurück; er ist ein verkappter Agent der Bourgeoisie oder ein unbewußter Ideologe des Kleinbürgertums.

Unter dem Feldgeschrei: Demokratie oder Diktatur 1 wird der Kampf um die Nationalversammlung geführt. Auch diese Parole der gegenrevolutionären Demagogie übernehmen gehorsam sozialistische Führer, ohne zu merken, daß die Alternative eine demagogische Fälschung ist.

Nicht darum handelt es sich heute, ob Demokratie oder Diktatur. Die von der Geschichte auf die Tagesordnung gestellte Frage lautet: bürgerliche Demokratie oder sozialistische Demokratie. Denn Diktatur. des Proletariats, das ist Demokratie im sozialistischen Sinne. Diktatur des Proletariats, das sind nicht Bomben, Putsche, Krawalle, „Anarchie”, wie die

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