Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 395

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der Nationalliberalen, des Zentrums, der Freisinnigen[1] und ihrer regierungssozialistischen Schleppträger sein!

Und der Zweck dieser politischen Unzucht: „Ordnung! Ruhe!” Nur keine Anschläge gegen das Privateigentum und die Kapitalsherrschaft! Ihr Arbeitermassen, die ihr hungert und friert, die ihr grollt und aufbegehrt, rührt euch ja nicht, „vernichtet” nichts, „zerstört” nichts, fügt „neues Unglück” nicht zum „alten Unglück”. Denn Zusammenbruch der Hindenburg-Diktatur und des deutschen Imperialismus – das ist „altes Unglück”, und eine proletarische Revolution in Deutschland – das ist„neues Unglück”. Kein Wunder, daß das Mosse-Blatt zu diesem Ruf des „Vorwärts” sagt: „Diese besonnenen Richtlinien werden in den weitesten Kreisen des liberalen Bürgertums entschlossene Zustimmung finden.” Na, und ob!

Das Programm des Regierungssozialismus in diesem Augenblick ist also klar und deutlich ausgesprochen, mit dem ganzen Zynismus der in politischer Prostitution Langerprobten.

Und darin liegt der Kernunterschied des heutigen deutschen Ministersozialismus von dem französischen und belgischen. Als Guesde und Sembat, als Vandervelde in das bürgerliche Ministerium eintraten, war in ihren Ländern nicht die proletarische Revolution im Anzuge, sondern die deutsche Invasion.[2] Es war die erste gewaltige Springflut des entfesselten Imperialismus, die sie vom Klassenstandpunkt hinweggespült und in eine Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie zum Behufe der „nationalen Verteidigung” hineingestoßen hat.

Die deutschen Regierungssozialisten traten zur Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie ins Ministerium nicht zu Beginn, sondern am Schluß des Krieges, nachdem sich das ministerialistische Experiment in Frankreich wie in Belgien völlig abgetragen, zerschlissen, korrumpiert hat, nachdem dort bereits die Ernüchterung der proletarischen Massen und ihre Rückkehr zum Klassenkampf auf dem Anmarsche ist, nachdem die russische Revolution das Gefüge der bürgerlichen Gesellschaft in der ganzen Welt erschüttert hat, nachdem der Imperialismus militärisch, politisch und moralisch ausgespielt hat, nachdem der Bestand des Klassenstaates in Österreich in eine hoffnungslose Krise geraten ist, nachdem im deutschen Heere die Auflösung der Disziplin und die Revolutionierung der Soldatenmassen in vollem Gange ist, nachdem in Deutschland, in Österreich, in Bulgarien die Volksmassen in heftigster Gärung sind, kurz: nachdem der

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[1] Gemeint ist die 1910 durch den Zusammenschluß der Freisinnigen Volkspartei, der Freisinnigen Vereinigung und der Deutschen Volkspartei entstandene Fortschrittliche Volkspartei.

[2] Bei Ausbruch des ersten Weltkrieges waren Marcel Sembat und Jules Guesde, führende Vertreter der Sozialistischen Partei Frankreichs, und Emile Vandervelde, Vertreter der belgischen Arbeiterpartei, in die bürgerlichen Regierungen ihrer Länder eingetreten.