Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 388

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impulsive Racheakte der Verzweiflung und des Hasses gegen die deutsche Blutherrschaft. Wie sie auch gemeint sein mochten, sie haben eine schwere Gefährdung der Sache der Revolution in Rußland mit sich gebracht, nämlich die Spaltung innerhalb der bisher herrschenden sozialistischen Gruppierung. Sie haben einen Keil zwischen die Bolschewiki und die linken Sozialrevolutionäre getrieben, ja einen Abgrund und die Todfeindschaft zwischen den beiden Flügeln der Revolutionsarmee geschaffen.[1]

Gewiß, auch die sozialen Unterschiede, der Gegensatz des besitzenden Bauerntums und des Landproletariats, sowie anderes hätten früher oder später eine Entzweiung der Bolschewiki und der linken Sozialistenrevolutionäre herbeigeführt. Bis zum Attentat auf Mirbach schienen die Dinge noch nicht so weit gediehen zu sein. Tatsache ist jedenfalls, daß die linken Sozialistenrevolutionäre den Bolschewiki ihre Unterstützung liehen. Die Oktoberrevolution[2], die die Bolschewiki ans Ruder brachte, die Auseinandertreibung der Konstituante, die bisherigen Reformen der Bolschewiki wären ohne die Mitwirkung der linken Sozialistenrevolutionäre kaum möglich. Erst Brest-Litowsk und seine Nachwirkungen haben den Keil zwischen die beiden Flügel getrieben. Der deutsche Imperialismus erscheint jetzt als der Schiedsrichter in den Beziehungen der Bolschewiki zu ihren gestrigen Bundesgenossen in der Revolution, wie er Schiedsrichter in ihren Beziehungen zu den Randprovinzen Rußlands und seiner Nachbarstaaten ist. Daß sich dadurch die ohnehin gewaltigen Widerstände gegen die Herrschaft und das Reformwerk der Bolschewiki steigern, daß die Basis, auf der ihre Herrschaft beruht, sich dadurch bedeutend verschmälert hat, liegt auf der Hand. Wahrscheinlich war diese innere Auseinandersetzung und Spaltung der heterogenen Elemente der Revolution an sich unvermeidlich, wie dies bei der fortschreitenden Radikalisierung in jeder aufsteigenden Revolution unvermeidlich ist. Jetzt ist aber tatsächlich eine Auseinandersetzung um die Säbelherrschaft Deutschlands über die russische Revolution eingetreten. Der deutsche Imperialismus ist der Pfahl, der im Fleische der russischen Revolution wühlt.

Doch damit nicht genug der Gefahren! Der eherne Ring des Weltkrieges, der im Osten durchbrochen schien, schließt sich wieder um Rußland und um die Welt lückenlos: Die Entente rückt mit Tschechoslowaken[3] und

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[1] Die linken Sozialrevolutionäre, die sich gegen die Politik der Sowjetmacht gestellt und in Moskau eine antisowjetische Meuterei ausgelöst hatten, wurden vom V. Gesamtrussischen Sowjetkongreß im Juli 1918 aus den Sowjets ausgeschlossen.

[2] In der Quelle: Novemberrevolution.

[3] Die Ententemächte hatten Ende Mai 1918 einen Aufruhr des tschechoslowakischen Korps entfesselt, das während des Krieges aus Kriegsgefangenen gebildet worden war und sich über Sibirien und den Fernen Osten nach Frankreich begeben sollte. Die Aufrührer, denen sieb Tausende Weißgardisten anschlossen, besetzten einen großen Teil Sibiriens und des Urals sowie Gebiete an der Wolga und liquidierten dort die Organe der Sowjetmacht. Die Rote Armee zerschlug Ende 1919 den Aufstand.