Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 386

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Und doch war sie zum größten Teil eine Rechnung ohne den Wirt, nämlich ohne den deutschen Militarismus, dem sich Rußland durch den Separatfrieden auf Gnade und Ungnade ausgeliefert hat. Der Brester Friede war in Wirklichkeit nichts anderes als eine Kapitulation des russischen revolutionären Proletariats vor dem deutschen Imperialismus. Freilich, Lenin und seine Freunde täuschten über die Tatsachen weder sich noch andere. Sie gaben die Kapitulation unumwunden zu. Worüber sie sich leider täuschten, war die Hoffnung, um den Preis dieser Kapitulation eine wirkliche Atempause zu erkaufen, durch einen Separatfrieden sich aus dem Höllenbrand des Weltkrieges wirklich retten zu können. Sie zogen die Tatsache nicht in Betracht, daß die Kapitulation Rußlands in Brest-Litowsk eine enorme Stärkung der imperialistisch-alldeutschen Politik, damit gerade die Schwächung der Chancen einer revolutionären Erhebung in Deutschland bedeuten und nicht den Abschluß des Krieges mit Deutschland herbeiführen würde, sondern bloß den Anfang eines neuen Kapitels dieses Krieges.

Tatsächlich ist der „Friede” von Brest-Litowsk eine Chimäre. Nicht einen Augenblick hat es Frieden zwischen Rußland und Deutschland gegeben. Es war seit Brest-Litowsk bis auf heute fortgesetzter Krieg, nur ein eigenartiger, von einer Seite geführter Krieg: systematisches deutsches Vordringen und stillschweigendes Zurückweichen der Bolschewiki, Schritt für Schritt. Die Okkupation der Ukraine, Finnlands, Livlands, Estlands, der Krim, des Kaukasus, immer weiterer Strecken Südrußlands – das ist das Ergebnis des „Friedenszustandes” seit Brest-Litowsk.

Und das bedeutete: erstens Erdrosselung der Revolution und Sieg der Konterrevolution in allen revolutionären Hochburgen Rußlands. Denn Finnland, Baltikum, Ukraine, Kaukasus, Schwarzmeergebiet – das ist alles Rußland, nämlich Terrain der russischen Revolution, was auch die hohle, kleinbürgerliche Phraseologie über das „Selbstbestimmungsrecht der Nationen” dagegen schwatzen mag.

Zweitens bedeutet dies: Abschnürung auch des großrussischen Teils des revolutionären Terrains vom Getreidegebiet, Kohlengebiet, Erzgebiet und Naphthagebiet, also von den wichtigsten wirtschaftlichen Lebensquellen der Revolution.

Drittens: Ermunterung und Stärkung aller konterrevolutionären Elemente innerhalb Rußlands zum kräftigsten Widerstand gegen die Bolschewiki und ihre Maßnahmen.

Viertens: Schiedsrichterrolle Deutschlands in den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen Rußlands zu allen seinen eigenen Provinzen –

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