Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 359

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Lenin sagt: Der bürgerliche Staat sei ein Werkzeug zur Unterdrückung der Arbeiterklasse, der sozialistische – zur Unterdrückung der Bourgeoisie. Es sei bloß gewissermaßen der auf den Kopf gestellte kapitalistische Staat. Diese vereinfachte Auffassung sieht von dem Wesentlichsten ab: Die bürgerliche Klassenherrschaft braucht keine politische Schulung und Erziehung der ganzen Volksmasse, wenigstens nicht über gewisse eng gezogene Grenzen hinaus. Für die proletarische Diktatur ist sie das Lebenselement, die Luft, ohne die sie nicht zu existieren vermag.

„Dank dem offenen und unmittelbaren Kampf um die Regierungsgewalt …”[1] Hier widerlegt Trotzki sich selbst und seine eigenen Parteifreunde aufs treffendste. Eben weil dies zutrifft, haben sie durch Erdrückung des öffentlichen Lebens die Quelle der politischen Erfahrung und das Steigen der Entwicklung verstopft. Oder aber müßte man annehmen, daß Erfahrung und Entwicklung bis zur Machtergreifung der Bolschewiki nötig war, den höchsten Grad erreicht hatte und von nun an überflüssig wurde. (Rede Lenins: Rußland ist überzeugt für den Sozialismus!!!)[2]

In Wirklichkeit umgekehrt! Gerade die riesigen Aufgaben, an die die Bolschewiki mit Mut und Entschlossenheit herantraten, erforderten die intensivste politische Schulung der Massen und Sammlung der Erfahrung.[3]

Die stillschweigende Voraussetzung der Diktaturtheorie im Lenin-Trotzkischen Sinn ist, daß die sozialistische Umwälzung eine Sache sei, für die ein fertiges Rezept in der Tasche der Revolutionspartei liege, das dann nur mit Energie verwirklicht zu werden brauche.[4] Dem ist leider – oder je nachdem: zum Glück – nicht so. Weit entfernt, eine Summe fertiger Vorschriften zu sein, die man nur anzuwenden hätte, ist die praktische Verwirklichung des Sozialismus als eines wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Systems eine Sache, die völlig im Nebel der Zukunft liegt. Was wir in unserem Programm besitzen, sind nur wenige große Wegweiser, die die Richtung anzeigen, in der die Maßnahmen gesucht werden

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[1] Punkte in der Quelle. – Siehe Leo Trotzki: Von der Oktober-Revolution bis zum Brester Friedens-Vertrag, S. 93.

[2] In der Quelle gibt Rosa Luxemburg irrtümlich Nr. 29 an. Der Artikel „Nach der russischen Revolution” wurde veröffentlicht im „Mitteilungs-Blatt des Verbandes der sozialdemokratischen Wahlvereine Berlins und Umgegend”, Nr. 36 vom 8. Dezember 1918. Er enthält eine sehr ausführliche, teilweise wörtliche Wiedergabe der Arbeit „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht”, in der W. I. Lenin die Schwierigkeiten des Aufbaus in Sowjetrußland nach dem Sieg der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution darlegt und die Aufgaben für die Übergangsperiode von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaftsordnung, die Funktion der neuen Staatsmacht Im Kampf für den Aufbau der Wirtschaft und zum Schutz gegen Konterrevolution, Korruption und Sabotage entwickelt.

[3] Bemerkung am linken Rand ohne Einordnungshinweis: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie nods so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ,Gerechtigkeit’, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ,Freiheit’ zum Privilegium wird.”

[4] Bemerkung am linken Rand ohne Einordnungshinweis: „Die Bolschewiki werden selbst mit der Hand auf dem Herzen nicht leugnen wollen, daß sie auf Schritt und Tritt tasten, versuchen, experimentieren, hin- und herprobieren mußten und daß ein gut Teil ihrer Maßnahmen keine Perle darstellt. So muß und wird es uns allen gehen, wenn wir darangehen – wenn auch nicht überall so schwierige Verhältnisse herrschen mögen.”