Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 358

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-4/seite/358

ligenz nach der Oktoberrevolution die Sowjetregierung monatelang boykottierten, den Eisenbahn-, Post- und Telegraphenverkehr, den Schulbetrieb, den Verwaltungsapparat lahmlegten und sich auf diese Weise gegen die Arbeiterregierung auflehnten, da waren selbstverständlich alle Maßregeln des Druckes gegen sie: durch Entziehung politischer Rechte, wirtschaftlicher Existenzmittel etc„ geboten, um den Widerstand mit eiserner Faust zu brechen. Da kam eben die sozialistische Diktatur zum Ausdruck, die vor keinem Machtaufgebot zurückschrecken darf, um bestimmte Maßnahmen im Interesse des Ganzen zu erzwingen oder zu verhindern. Hingegen ein Wahlrecht, das eine allgemeine Entrechtung ganzer breiter Schichten der Gesellschaft ausspricht, das sie politisch außerhalb des Rahmens der Gesellschaft stellt, während es für sie wirtschaftlich innerhalb ihres Rahmens selbst keinen Platz zu schaffen imstande ist, eine Entrechtung nicht als konkrete Maßnahme zu einem konkreten Zweck, sondern als allgemeine Regel von dauernder Wirkung, das ist nicht eine Notwendigkeit der Diktatur, sondern eine lebensunfähige Improvisation.[1]

Doch mit der Konstituierenden Versammlung und dem Wahlrecht ist die Frage nicht erschöpft, es kommt noch die Abschaffung der wichtigsten demokratischen Garantien eines gesunden öffentlichen Lebens und der politischen Aktivität der arbeitenden Massen in Betracht: der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts, die für alle Gegner der Sowjetregierung vogelfrei geworden sind.[2] Für diese Eingriffe reicht die obige Argumentation Trotzkis über die Schwerfälligkeit der demokratischen Wahlkörper nicht entfernt aus. Hingegen ist es eine offenkundige, unbestreitbare Tatsache, daß ohne eine freie, ungehemmte Presse, ohne ungehindertes Vereins- und Versammlungsleben gerade die Herrschaft breiter Volksmassen völlig undenkbar ist.

Nächste Seite »



[1] Bemerkung am linken Rand ohne Einordnungshinweis: „Sowohl Sowjets als Rückgrat wie Konstituante und allgemeines Wahlrecht.” Auf losem, unnumeriertem Blatt die Notiz: „Die Bolschewiki bezeidsneten die Sowjets als reaktionär, weil die Mehrheit darin Bauern seien (Bauerndelegierte und Soldatendelegierte). Nachdem sich die Sowjets auf ihre Seite stellten, wurden sie die richtigen Vertreter der Volksmeinung. Aber dieser plötzliche Umschwung hing nur mit Frieden und Landfrage zusammen.”

[2] Das Recht der Pressefreiheit, der Versammlungs- und Vereinsfreiheit für die Werktätigen war in der Verfassung der Sowjetmacht verankert. „Die proletarische Demokratie hält die Ausbeuter, die Bourgeoisie nieder – darum heuchelt sie nicht, verspricht ihnen nicht Freiheit und Demokratie —, den Werktätigen aber gibt sie die wahre Demokratie. Erst Sowjetrußland hat dem Proletariat und der ganzen gewaltigen werktätigen Mehrheit Rußlands eine Freiheit und Demokratie gegeben, wie sie in keiner bürgerlichen demokratischen Republik bekannt, möglich und denkbar ist; zu diesem Zweck hat es z. B. der Bourgeoisie ihre Paläste und Villen abgenommen (sonst ist die Versammlungsfreiheit eine Heuchelei), zu diesem Zweck hat es den Kapitalisten die Druckereien und das Papier abgenommen (sonst ist die Pressefreiheit für die werktätige Mehrheit der Nation eine Luge).” (W. I. Lenin: Werke, Bd. 28, S. 97 f.)