Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 346

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Parole[1], die sie in den Vordergrund ihrer Politik geschoben haben: das sogenannte Selbstbestimmungsrecht der Nationen[2] oder, was unter dieser Phrase in Wirklichkeit steckte: den staatlichen Zerfall Rußlands. Die mit doktrinärer Hartnäckigkeit immer wieder proklamierte Formel von dem Recht der verschiedenen Nationalitäten des russischen Reichs, ihre Schicksale selbständig zu bestimmen „bis einschließlich der staatlichen Lostrennung von Rußland”, war ein besonderer Schlachtruf Lenins und Genossen während ihrer Opposition gegen den Miljukowschen wie gegen den Kerenskischen Krieg[3], sie bildete die Achse ihrer inneren Politik nach dem Oktoberumschwung, und sie bildete die ganze Plattform der Bolschewiki in Brest-Litowsk[4], ihre einzige Waffe, die sie der Machtstellung des deutschen Imperialismus entgegenzustellen hatten.

Zunächst frappiert an der Hartnäckigkeit und starren Konsequenz, mit der Lenin und Genossen an dieser Parole festhielten, daß sie sowohl in krassem Widerspruch zu ihrem sonstigen ausgesprochenen Zentralismus der Politik wie auch zu der Haltung [steht], die sie den sonstigen demokratischen Grundsätzen gegenüber eingenommen haben. Während sie gegenüber der Konstituierenden Versammlung, dem allgemeinen Wahlrecht, der Presse- und Versammlungsfreiheit, kurz, dem ganzen Apparat der demokratischen Grundfreiheiten der Volksmassen, die alle zusammen

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[1] In der Quelle: Politik.

[2] Die Sowjetregierung vertrat konsequent den marxistischen Grundsatz des Selbstbestimmungsrechs der Nationen. Sie ging davon aus, daß die vom Zarismus unterdrückten Nationen nicht gewaltsam an Rußland gekettet werden dürfen. Nur auf dem Weg eines freiwilligen Bündnisses konnte eine Vereinigung erreicht werden, da nur so der Boden für nationale Hetze und nationalen Hader beseitigt wird. Außer dem nationalen Aspekt dieser Frage berücksichtigten die Bolschewiki die soziale Seite, „auf welcher Stufe des Weges vom Mittelalter zur bürgerlichen Demokratie und von der bürgerlichen zur proletarischen Demokratie die betreffende Nation steht” (W. I. Lenin: Werke, Bd. 29, S. 158), denn „der Kommunismus wird nicht auf dem Wege der Gewalt Wurzel fassen”. (Ebenda, S. 160.) Die Bolschewiki unterstützten den Differenzierungsprozeß der Klassen innerhalb der Nationen und strebten als konsequente Internationalisten das Bündnis zwischen den Werktätigen aller Nationen zum Kampf gegen die Bourgeoisie aller Nationen an.

[3] Die Provisorische Regierung mit P. N. Miljukow als Außenminister hatte den Krieg fortgesetzt und den Ententeländern versichert, allen Bûndnisverpflichtungen nachzukommen, um den Krieg bis zum „siegreichen Ende” zu führen. Im April 1917 geriet die Provisorische Regierung in eine Krise. Mächtige Demonstrationen der Arbeiter und Soldaten zwangen sie zu manövrieren. Im Mai 1917 wurde eine Koalitionsregierung gebildet, an der sich neben Vertretern der Bourgeoisie auch Vertreter der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki beteiligten. Diese Politik wurde von der im Mai 1917 neugebildeten Regierung, der A. F. Kerenski als Kriegs- und Marineminister angehörte. weitergeführt und im Juli 1917 eine Offensive unternommen, die 60 000 Opfer kostete. Die Bolschewiki stellten dem Ihre Forderung nach einem sofortigen Frieden ohne Annexionen entgegen, wobei sie es auch als Annexion betrachteten, wenn Polen, Finnland, die Ukraine und die übrigen nicht großrussischen Gebiete zwangsweise beim russischen Staatsverband gehalten würden.

[4] Entsprechend dem vom II. Gesamtrussischen Sowjetkongreß am 8. November 1917 beschlossenen Dekret über den Frieden, in dem allen kriegführenden Staaten Verhandlungen über einen gerechten und demokratischen Frieden und als Voraussetzung dafür der sofortige Abschluß eines Waffenstillstandes vorgeschlagen worden waren, begannen am 3. Dezember 1917 in Brest-Litowsk Verhandlungen mit dem deutschen Oberkommando, nachdem die Regierungen der Westmächte Verhandlungen entschieden abgelehnt hatten. Die deutsche Regierung verfolgte das Ziel, einen Separatfrieden zu schließen, den Raub von Gebieten im Osten zu sichern und die Hand frei zu bekommen für verstärkte Kriegsanstrengungen an der Westfront. Die aufbegehrenden Volksmassen in Deutschland sollten durch die scheinbare Friedensbereitschaft der Regierung getäuscht werden.

Am 15. Dezember wurde der Waffenstillstandsvertrag unterzeichnet und die Aufnahme von Friedensverhandlungen für den 22. Dezember vereinbart. Während der Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk forderte die Sowjetregierung das Selbstbestimmungsrecht aller Nationen der kriegführenden Länder bis zum Recht der Lostrennung und Bildung eines selbständigen Staates für jede Nation. Dieses Recht sollte verwirklicht werden durch ein unter bestimmten Voraussetzungen durchgeführtes Referendum der gesamten Bevölkerung des jeweiligen Gebietes.

Durch den am 3. März 1918 unterzeichneten Raubfrieden von Brest-Litowsk verlor Sowjetrußland ein Territorium von ca. einer Million km2.