Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 336

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Ihre Entfaltung bewegt sich naturgemäß auf aufsteigender Linie: von gemäßigten Anfängen zu immer größerer Radikalisierung der Ziele und parallel damit von der Koalition der Klassen und Parteien zur Alleinherrschaft der radikalsten Partei.

Im ersten Moment, im März 1917, standen an der Spitze der Revolution die „Kadetten”, d. h. die liberale Bourgeoisie. Der allgemeine erste Hochgang der revolutionären Flut riß alle und alles mit: die IV. Duma, das reaktionärste Produkt des aus dem Staatsstreich[1] hervorgegangenen reaktionärsten Vierklassenwahlrechts[2], verwandelte sich plötzlich in ein Organ der Revolution. Sämtliche bürgerliche Parteien, einschließlich der nationalistischen Rechten, bildeten plötzlich eine Phalanx gegen den Absolutismus. Dieser fiel auf den ersten Ansturm fast ohne Kampf, wie ein abgestorbenes Organ, das nur angerührt zu werden brauchte, um dahinzufallen. Auch der kurze Versuch der liberalen Bourgeoisie, wenigstens die Dynastie und den Thron zu retten, zerschellte in wenigen Stunden. Der reißende Fortgang der Entwicklung übersprang in Tagen und Stunden Strecken, zu denen Frankreich einst Jahrzehnte brauchte. Hier zeigte sich, daß Rußland die Resultate der europäischen Entwicklung eines Jahrhunderts realisierte und vor allem – daß die Revolution des Jahres 1917 eine direkte Fortsetzung der Revolution von 1905–1907, nicht ein Geschenk der deutschen „Befreier” war. Die Bewegung im März 1917 knüpfte unmittelbar dort an, wo die vor zehn Jahren ihr Werk abgebrochen hatte. Die demokratische Republik war das fertige, innerlich reife Produkt gleich des ersten Ansturms der Revolution.

Jetzt begann aber die zweite, schwierigere Aufgabe. Die treibende Kraft der Revolution war vom ersten Augenblick an die Masse des städtischen Proletariats. Seine Forderungen erschöpften sich aber nicht in der politischen Demokratie, sondern richteten sich auf die brennende Frage der Internationalen Politik: sofortigen Frieden. Zugleich stützte sich die Re-

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[1] Die zaristische Regierung hatte am 3. Juni 1907 die II. Reichsduma aufgelöst und die Mitglieder der sozialdemokratischen Fraktion verhaften lassen. Gleichzeitig führte sie, ohne die Zustimmung der Reichsduma einzuholen, ein neues Wahlgesetz ein. Dieser Staatsstreich ermöglichte es der Regierung, in der Duma eine rechtsgerichtete Mehrheit zu behaupten und die 1912 gewählte IV. Reichsduma zu einem Machtorgan „der reaktionären Schichten, der mit den fronherrlichen Gutsbesitzern und den Oberschichten der Bourgeoisie verquickten zaristischen Bürokratie” zu machen. (W. I. Lenin: Werke, Bd. 19, S. 29).

[2] Nach dem Wahlgesetz vom Dezember 1905 wurden die Wähler nach Stand und Besitz in 4 Kurien eingeteilt, wobei die Großgrundbesitzer besondere Privilegien erhielten und die Zahl der Arbeiter-und Bauerndeputierten beschränkt wurde. Diesem undemokratischen Wahlrecht wurden nach dem Staatsstreich 1907 neue Begrenzungen hinzugefügt, so daß die Herrschaft der Großgrundbesitzer und der Großbourgeoisie in der Duma garantiert wurde und die Völker der nationalen Randgebiete Rußlands entweder kein oder nur ein äußerlich beschränktes Wahlrecht besaßen.