Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 329

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-4/seite/329

und Perspektive, meist mit völliger Vernachlässigung der Landschaft, hingestellt werden.

Wenn das Drama nach Ulricis treffendem Ausdruck die Poesie der Tat ist, so ist das dramatische Element in den Romanen Dostojewskis unverkennbar. Sie strotzen derart von Handlung, Erlebnis und Spannung, daß ihre sich übereinandertürmende sinnverwirrende Fülle das epische Element des Romans zu erdrücken, seine Schranken jeden Augenblick zu sprengen droht. Kann man doch meist, nachdem man einen oder zwei dicke Bände in atemloser Spannung gelesen, kaum fassen, daß man Vorgängen von nur zwei oder drei Tagen soll beigewohnt haben. Ebenso charakteristisch für die dramatische Veranlagung Dostojewskis ist, daß die Hauptknoten der Handlung schon zu Beginn seiner Romane geschürzt, die großen Konflikte fertig, reif zur Explosion vorliegen, ihre langsame Vorgeschichte, ihr Heranreifen nicht miterlebt, sondern der rückschließenden Wirkung der Handlung auf den Leser überlassen wird. Gorki wählt, selbst wenn er die verkörperte Aktionsunfähigkeit, den Bankrott der menschlichen Tatkraft – wie im „Nachtasyl”, in den „Kleinbürgern” – schildern will, zu ihrer Darstellung die dramatische Form und weiß ihnen einen Schimmer des Lebens ins blasse Antlitz zu hauchen.

Korolenko und Gorki repräsentieren nicht bloß zwei dichterische Individualitäten, sondern auch zwei Generationen der russischen Literatur und der freiheitlichen Ideologie. Für Korolenko steht noch der Bauer im Mittelpunkt des Interesses, für Gorki, den begeisterten Adepten des deutschen wissenschaftlichen Sozialismus – der städtische Proletarier und sein Schatten, der Lumpenproletarier. Während bei Korolenko die Landschaft der natürliche Rahmen der Erzählung, ist es bei Gorki die Werkstatt, die Kellerwohnung, das Asyl für Obdachlose.

Die grundverschiedene Lebensgeschichte gibt den Schlüssel zur Persönlichkeit beider Künstler. Korolenko, der in behaglichen bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen ist, hatte in der Kindheit das normale Gefühl der Unverrückbarkeit, der Stabilität der Welt und ihrer Dinge, wie es allen glücklichen Kindern eigen ist. Gorki, teils im Kleinbürgertum, teils im Lumpenproletariat wurzelnd, in echt Dostojewskischer Atmosphäre brütender Schrecken, Verbrechen und Elementarausbrüche menschlicher Leidenschaften aufgewachsen, schlägt schon als Kind um sich wie ein gehetztes Wölflein und weist dem Schicksal seine spitzen Zähne. Diese Kindheit voller Entbehrungen, Kränkungen, Bedrückungen, im Gefühl der Unsicherheit, des Hinundhergeworfenseins, in nächster Nachbarschaft mit dem Bodensatz der Gesellschaft, schließt in sich alle typischen

Nächste Seite »