Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 321

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Bauernmasse, dazu das Chaos der Begriffe, Erwartungen und Forderungen der Bauern selbst, ihr Mißtrauen gegen die Städter, der Gegensatz zwischen der reichen Dorfbourgeoisie und der verelendeten Masse – all das richtete plötzlich vor der Intelligenz und ihrem guten Willen tausend Schranken und Hindernisse auf, die sie zur Verzweiflung brachten. Alle die zahllosen örtlichen Mißbräuche und Bedrückungen, denen die Bauernschaft his dahin, in normalen Zeiten, im stillen tagtäglich ausgesetzt war, alle Absurditäten und Widersprüche des Bürokratismus traten an das hellste Licht, und der Kampf mit dem Hunger, der an sich eine einfache Wohltätigkeitsaktion war, verwandelte sich von selbst in einen Kampf mit dem sozialen und politischen Regime des Absolutismus.

Korolenko stellte sich wie Tolstoi an die Spitze der fortschrittlichen Intelligenz und widmete sich der Sache nicht nur mit der Feder, sondern mit seiner ganzen Persönlichkeit. Im Frühjahr 1892 begab er sich in einen Kreis des Gouvernements Nishni-Nowgorod, gerade in das Wespennest der reaktionären Adelsfronde, um in den notleidenden Dörfern die Volksspeisung zu organisieren. Völlig unbekannt mit dem örtlichen Milieu, drang er bald in jede Einzelheit ein und begann ein zähes Ringen mit den tausend Widerständen, die sich ihm in den Weg legten. Vier Monate lang blieb er in dem Kreis, ständig auf der Wanderung von Dorf zu Dorf, von Instanz zu Instanz, wobei er Nächte hindurch in Bauernstuben beim trüben Schein eines blakenden Lämpchens sein Tagebuch füllte und zugleich in den Zeitungen der Hauptstadt einen frisch-fröhlichen Kampf mit der Reaktion Schlag auf Schlag führte. Sein Tagebuch, worin er das ganze Golgatha des russischen Dorfes – bettelnde Kinder, verstummte, gleichsam versteinerte Mütter, weinende Greise, Krankheit und Hoffnungslosigkeit – in einem grauenhaften Gemälde vorführt, ist ein unvergängliches Denkmal des zaristischen Regimes geworden.

Der Hungersnot folgte auf dem Fuße der zweite Apokalyptische Reiter: die Pest. Aus Persien kam 1893 über die Niederungen der Wolga, den Fluß hinauf, die Cholera gezogen und hauchte über die vom Hunger ausgemergelten apathischen Dörfer ihren mörderischen Odem aus. Das Verhalten der zaristischen Regierungsorgane diesem neuen Feind gegenüber wirkt wie eine Anekdote, war aber bittere Wahrheit: Der Gouverneur von Baku flüchtete vor der Pest ins Gebirge, der Gouverneur von Saratow versteckte sich, als die Volksunruhen ausbrachen, auf einem Dampfschiff. Der Gouverneur von Astrachan schoß den Vogel ab: Er sandte in den Kaspi (das Kaspische Meer) Wachschiffe aus, die allen aus Persien und aus dem Kaukasus kommenden Fahrzeugen als choleraver-

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