Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 313

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Satire höheren Stils so gut wie ganz. In England hat die satirische Gattung seit Beginn des 18. Jahrhunderts, seit der großen Revolution einen beispiellosen Aufschwung genommen. Nicht nur hat die englische Literatur eine Reihe solcher Meister wie Mandeville, Swift, Sterne, Sir Philip Francis, Byron, Dickens hervorgebracht, in welcher Korona natürlich Shakespeare für die Falstaffigur allein der erste Platz gebührt: Die Satire ist hier aus einem Privilegium der Geistesheroen zum Allgemeingut, sie ist sozusagen nationalisiert worden. In politischen Pamphleten, Libellen, Parlamentsreden, Zeitungsartikeln funkelt sie seit jeher ebenso wie in der Dichtkunst auf. Sie ist so sehr tägliches Brot, normale Luft der Engländer geworden, daß man zum Beispiel in den Höheren-Töchter-Erzählungen einer Croker mitunter ebenso ätzende Schilderungen der englischen Aristokratie finden kann wie bei Wilde, Shaw oder Galsworthy.

Häufig wird diese Blüte der satirischen Gattung aus der alten politischen Freiheit Englands abgeleitet und durch sie erklärt. Ein Blick auf die russische Literatur, die in dieser Hinsicht neben die englische gestellt werden kann, beweist, daß es nicht sowohl auf die Verfassung eines Landes wie auf den Geist der Literatur, nicht auf die Institutionen, sondern auf die Gesinnung der führenden Kreise der Gesellschaft ankommt.

In Rußland hat sich die Satire seit der Entstehung der modernen Literatur aller ihrer Gebiete bemächtigt und auf jedem Hervorragendes geleistet. Puschkins Poem „Eugen Onegin”, Lermontows Novellen und Epigramme, Krylows Fabeln, Ostrowskis und Gogols Komödien, Nekrassows Gedichte – sein satirisches Epos „Wer lebt in Rußland frei und glücklich” gibt selbst in der schwierigen deutschen Übersetzung[1] einen Begriff von der köstlichen Frische und Farbigkeit seiner Schöpfungen – sind ebenso viele Meisterwerke, jedes in seiner Art. Endlich hat die russische Satire in Saltykow-Schtschedrin ein Genie hervorgebracht, das für die grimmige Geißelung des Absolutismus und der Bürokratie eine ganz eigenartige literarische Form, eine eigene, unübersetzbare Sprache erfunden und die geistige Entwicklung der Gesellschaft in tiefgreifender Weise beeinflußt hat.

So vereinigt die russische Literatur mit hohem sittlichem Pathos künstlerisches Verständnis für die ganze Tonleiter menschlicher Empfindungen, so hat sie mitten in dem großen Gefängnis, in der materiellen Armut des Zarismus ein eigenes Reich geistiger Freiheit und üppiger Kultur geschaffen, in dem man atmen und an den Interessen und geistigen Strömungen der Kulturwelt teilnehmen konnte. Dadurch vermochte sie auch

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[1] In Reclams Universalbibliothek. – [Fußnote im Original]