Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 292

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Ehen Leser noch höheren Genuß als der erste. Inhaltlich bilden die beiden Bände, obwohl sie leider bis jetzt in keiner Popularisation berücksichtigt, also der breiten Masse der aufgeklärten Arbeiter unbekannt geblieben sind, eine wesentliche Ergänzung und Weiterentwicklung des ersten Bandes, die für das Verständnis des ganzen Systems unentbehrlich ist.

Im ersten Bande befaßt sich Marx mit der Kardinalfrage der Nationalökonomie: Woher entspringt die Bereicherung, wo ist die Quelle des Profits? Die Beantwortung dieser Frage wurde in der Zeit, ehe Marx auftrat, nach zwei verschiedenen Richtungen gegeben.

Die „wissenschaftlichen” Verteidiger der besten der Welten, in der wir leben, Männer, die zum Teil, wie Schulze-Delitzsch, auch bei den Arbeitern Ansehen und Vertrauen genossen, erklärten den kapitalistischen Reichtum durch eine ganze Reihe mehr oder minder plausibler Rechtfertigungsgründe und schlauer Manipulationen: als die Frucht systematischen Preisaufschlags auf die Waren zur „Entschädigung” des Unternehmers für das von ihm zur Produktion edelmütig „überlassene” Kapital, als Vergütung für das „Risiko”, das jeder Unternehmer laufe, als Lohn für die „geistige Leitung” des Unternehmens und dergleichen mehr. Nach diesen Erklärungen kam es jedesmal nur darauf an, den Reichtum der einen, also auch die Armut der andern als etwas „Gerechtes”, mithin Unabänderliches hinzustellen.

Demgegenüber erklärten die Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft, also die Schulen der Sozialisten, die vor Marx auftraten, die Bereicherung der Kapitalisten zu allermeist als glatte Prellerei, ja als Diebstahl an den Arbeitern, der durch die Dazwischenkunft des Geldes oder durch Mangel an Organisation des Produktionsprozesses ermöglicht werde. Von hier aus kamen jene Sozialisten zu verschiedenen utopischen Plänen, wie man durch Abschaffung des Geldes, durch „Organisation der Arbeit” und dergleichen mehr die Ausbeutung beseitigen könne.

Marx deckt nun im ersten Band des „Kapitals” die wirkliche Wurzel der kapitalistischen Bereicherung auf. Er befaßt sich weder mit Rechtfertigungsgründen für die Kapitalisten noch mit Anklagen gegen ihre Ungerechtigkeit: Er zeigt zum ersten Male, wie der Profit entsteht und wie er in die Tasche des Kapitalisten wandert. Das erklärt er durch zwei entscheidende ökonomische Tatsachen: erstens dadurch, daß die Masse der Arbeiter aus Proletariern besteht, die ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen müssen, und zweitens dadurch, daß diese Ware Arbeitskraft heute einen so hohen Grad von Produktivität besitzt, daß sie ein viel größeres Produkt in einer gewissen Zeit herzustellen vermag, als zu ihrer eigenen

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