Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 289

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Ausbruch des Völkermordens wie für seine heutige Stellung zur Friedensfrage als Entschuldigung und als Deckmantel der sozialistischen Selbstpreisgebung dienen. Jedoch der scheinbar durchschlagende „praktische” Einwand ist nichts als eine Ausflucht. Freilich lassen sich Revolutionen nicht auf Kommando machen. Dies ist aber auch gar nicht Aufgabe der sozialistischen Partei. Pflicht ist nur, jederzeit unerschrocken „auszusprechen, was ist”, d. h. den Massen klar und deutlich ihre Aufgaben im gegebenen geschichtlichen Moment vorzuhalten, das politische Aktionsprogramm und die Losungen zu proklamieren, die sich aus der Situation ergeben. Die Sorge dafür, ob und wann die revolutionäre Massenerhebung sich daran knüpft, muß der Sozialismus getrost der Geschichte selbst überlassen. Erfüllt er in diesem Sinne seine Pflicht, dann wirkt er als mächtiger Faktor bei der Entfesselung der revolutionären Elemente der Situation und trägt zur Beschleunigung des Ausbruchs der Massenaktionen bei. Aber auch im schlimmsten Falle, wenn er zunächst als Rufer in der Wüste erscheint, dem die Massen ihre Gefolgschaft versagen, schafft er sich, wie es sich am Schluß der Rechnung stets und unweigerlich herausstellt, eine moralische und politische Position, deren Früchte er später, wenn die Stunde der geschichtlichen Erfüllung schlägt, mit Zinseszinsen einheimst. Die heutige russische Revolution, in der die Sozialisten eine beispiellose Machtstellung einnehmen, ist nur eine Quittung über das jahrzehntelange unbeirrte Rufen der russischen Sozialdemokratie in der Wüste einer anscheinend völlig hoffnungslosen Situation nach der Massenrevolution unter dem Banner der proletarischen Klassenpolitik als nach dem einzigen Ausweg aus den Fesseln des Absolutismus.

Umgekehrt verwandeln sich die sozialistischen Parteien, wenn sie, wie seit dem 4. August bis auf den heutigen Tag, den Klassenkampf verleugnen, in das wirksamste Mittel zur Paralysierung der Massen, also in einen konterrevolutionären Faktor. Der Internationale Sozialismus fungiert tatsächlich seit Ausbruch des Weltkrieges als der zuverlässigste Wächter der bürgerlichen Klassenherrschaft. Und er bleibt dieser Funktion namentlich in diesem Augenblick treu, indem er im Zeichen der Stockholmer Konferenz seine ganze Kraft für eine Verständigung der imperialistischen Regierungen verwendet, also für die Wiedereinsetzung des Imperialismus in seine Machtstellung vor dem Kriege.

In Wirklichkeit bereitet der Internationale Sozialismus damit nicht die Beendigung des Krieges, sondern ein Leichentuch nach dem Friedensschluß, zunächst für die russische Revolution und dann für sich selbst als Faktor der modernen Weltgeschichte. Heute wie vor drei Jahren gibt es

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