Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 288

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gend sollte dadurch auf billige Weise gewahrt und zugleich jedes Risiko vermieden werden. Die Geschichte macht es aber dem Sozialismus nicht so bequem, und das Problem lag nicht in der Abstimmung einer Handvoll sozialdemokratischer Parlamentarier, in dem weiland führenden Lande des Sozialismus, in Deutschland. Das Votum der Parlamentarier für oder gegen Kriegskredite war wichtig lediglich als Signal für die Massen, diese oder jene Taktik zu ergreifen, als Auftakt zur Entfaltung eines positiven Programms des Klassenkampfes im Kriege. Die Kreditverweigerung am 4. August hätte einzig Sinn gehabt als Kampfansage wider den Krieg und den Imperialismus auf der ganzen Linie – in Verbindung mit der offenen Aufrollung eines revolutionären Aktionsprogramms und einem Appell an die Massen, durch ihre Erhebung die Organisation der Landesverteidigung, d. h. die politische Macht in die eigenen Hände zu nehmen. Einen anderen Weg, sich dem Ausbruch des Krieges im Ernst, durch Taten und nicht durch Phrasen entgegenzustemmen, gab es damals nicht, wie es heute keinen gibt.

Schreckte man aber vor diesem einzig gangbaren Weg des Kampfes zurück, dann blieb nichts anderes übrig als völliger Verzicht auf jeden Kampf und jede eigene Politik, d. h. politische Abdankung. Die Kreditbewilligung und die Politik des 4. August waren dann nur logische Folgen, die sich mit zwingender Gewalt aufdrängten, da es in jener weltgeschichtlichen Situation keinen Mittelweg gab. Der Internationale Sozialismus stand vor einem Entweder-Oder. Entweder Kampf um politische Macht oder Bankerott und Einschwenkung in die herrschende Regierungspolitik. Dieselbe Situation dauert seit Ausbruch des Krieges, und heute, angesichts des Friedensproblems, hält die Geschichte der europäischen Arbeiterklasse mit der Unerbittlichkeit eines Wucherers denselben Schuldschein vor: „Ja, die Brust, so sagt der Schein!” Nur mit der Brust im großen offenen Machtkampf der proletarischen Massen vermag der Sozialismus den Weltkrieg zu bannen. Tut er das nicht, dann bleibt er bei allem Geschwätz über Frieden, ja gerade durch das Geschwätz, das einen Ausgleich zwischen den kriegführenden Mächten anstrebt, Handlanger des Imperialismus, Fußschemel der bürgerlichen Klassenherrschaft, also das direkte Gegenteil seiner selbst und kann dann nach einem so zustande gekommenen Frieden für ein Jahrzehnt als geschichtlicher Faktor abdanken.

Die anscheinend wunde Stelle der wirklichen sozialistischen Politik im Kriege liegt darin, daß sich Revolutionen nicht auf Kommando machen lassen. Dieses Argument soll sowohl für die Haltung des Proletariats beim

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