Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 286

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-4/seite/286

setzung für die Selbstbestimmung der Nationen ist die sozialistische Revolution, d. h. die politische und wirtschaftliche Selbstbestimmung der arbeitenden Klassen als der eigentlichen Masse in jeder Nation. Solange hingegen kapitalistische Klassenherrschaft besteht – und der Kern der Friedensformel „Keine Annexionen, keine Entschädigungen” geht ja gerade von der Unerschütterlichkeit dieser Klassenherrschaft aus –, bleibt die Selbstbestimmung der Nationen eine plumpe Mystifikation, die gerade gut genug ist, um die proletarischen Massen aller Nationen irrezuführen.

In der Tat begegnen sich im Nebel dieser Phrase die Ententeregierungen, die ja „kleine Nationen” zu beschützen vorgeben und nur um ihrer willen das Völkermorden fortsetzen, Präsident Wilson, der ausschließlich für die Rechte der Nationen die Vereinigten Staaten im Auftrage seiner Kapitalmagnaten in den Krieg gestürzt hat, Miljukow, der liberale Schwärmer und Poet des russischen Imperialismus, Kautsky, der Ersatztheoretiker der Haaseschen Ersatzopposition, Scheidemann, der gewesene Laufbursche Bethmann Hollwegs und sämtliche schlechte Musikanten des Sozialismus in den neutralen Ländern.

Gewiß, auch der russische Arbeiter- und Soldatenrat, auch die russischen sozialistischen Parteien I Allein, wenn je, so gilt hier der Satz: Wenn zwei dasselbe tun, so ist es nicht dasselbe. Das russische Proletariat hat seine Schuldigkeit getan und tut sie weiter, es hat seine Friedenspolitik in die Tat umgesetzt, indem es Revolution gemacht hat, und ist dabei, im eigenen Hause das Heft in die Hände zu nehmen. Mehr kann es für den Frieden nicht tun, denn nun haben die Proletariermassen anderer Länder das Wort. Solange diese sich nicht rühren, vielmehr unter dem Kommando des Imperialismus unerschütterlich weiter hungern, morden und sich morden lassen, bleibt dem russischen Proletariat eben nichts anderes übrig, als sich im Zirkel unlösbarer Widersprüche zu drehen und sich an Strohhalme einer sozialistisch schillernden Phraseologie zu klammern. Der wirklichen sozialistischen Friedenspolitik entspricht der erste Aufruf des Petersburger Arbeiter- und Soldatenrats „An die Völker der ganzen Welt” vom 27. März.[1] Die jetzige Friedensformel ist nur die Konzession der russischen Arbeiterklasse an die traurige Tatsache, daß jener Aufruf bislang eine Stimme in der Wüste geblieben ist.

Nächste Seite »



[1] Der Petersburger Arbeiter- und Soldatenrat hatte in einem Aufruf am 27. März 1917 die Völker der ganzen Welt aufgefordert, die Entscheidung über Krieg und Frieden in die eigenen Hände zu nehmen und gemeinsame Aktionen für den Frieden durchzuführen. Das deutsche Proletariat wurde insbesondere aufgefordert, das Jods des Absolutismus abzuschütteln und sich nicht mehr für den Krieg mißbrauchen zu lassen.