Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 279

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Tendenz führt zu einer Generalauseinandersetzung der Klassen im Schoße der russischen Gesellschaft, wobei die Hauptrolle naturgemäß der fortgeschrittensten und radikalsten Klasse, dem industriellen Proletariat, zufallen muß. Das Ziel, auf das diese Entwicklung hinsteuert, ist unvermeidlich die Diktatur des sozialistischen Proletariats. Gerade weil der Kampf gegen den Imperialismus und für den Frieden vom ersten Augenblick zur Achse der politischen Revolution wurde, ist die Bannerträgerin dieses Kampfes, die sozialistische Arbeiterschaft, sofort in den Vordergrund getreten und hat bereits in dem Koalitionsministerium[1] zur Hälfte das Regierungssteuer ergriffen.

Allein das Koalitionsministerium ist an sich eine Halbheit, die dem Sozialismus alle Verantwortlichkeit aufbürdet, ohne ihm entfernt die volle Möglichkeit der Entfaltung seines Programms zu gewähren. Es ist ein Kompromiß, der, wie alle Kompromisse, zum schließlichen Fiasko verurteilt ist. Das neue Koalitionsministerium wird kraft der inneren logischen Entwicklung über kurz oder lang einer rein sozialistischen Regierung, d. h. der tatsächlichen und formellen Diktatur des Proletariats, Platz machen müssen. Hier beginnt aber das Fatum der russischen Revolution. Die Diktatur des Proletariats ist in Rußland – falls eine Internationale proletarische Revolution ihr nicht rechtzeitig Rückendeckung schafft – zu einer betäubenden Niederlage verurteilt, gegen die das Schicksal der Pariser Kommune ein Kinderspiel gewesen sein dürfte.

Vor allem rollt die russische Revolution soziale und politische Probleme auf, die an sich nicht anders als auf Internationalem Maßstab gelöst werden können. Die unvermeidliche Erschütterung der bürgerlichen Eigentumsformen durch die bevorstehende Lösung der Agrarfrage, die Erschütterung der kapitalistischen Ausbeutungsformen durch eine radikale Umgestaltung der Arbeitsverhältnisse, die von der russischen Arbeiterschaft angestrebt werden muß, die Erschütterung des bürgerlichen Staates durch eine wirkliche Volksherrschaft – alles das kann sich unmöglich in den Rahmen des heutigen Europas fügen, in den Rahmen der krassesten militaristischen Reaktion, wie sie gerade seit dem Ausbruch des Weltkrieges in allen Ländern ungehemmt und unumschränkt die Herrschaft angetreten hat.

Je mehr in Rußland die Diktatur des Proletariats naht, um so mehr

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[1] Auf Grund ihrer imperialistischen Politik geriet die Provisorische Regierung im April 1917 in eine Krise. Mächtige Demonstrationen der Arbeiter und Soldaten zwangen sie zu manövrieren. Im Mai 1917 wurde eine Koalitionsregierung gebildet, an der sich neben Vertretern der Bourgeoisie auch Vertreter der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki beteiligten.