Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 253

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demokratische Politik und Klassenkampf zu treiben – wenn es Bethmann eines schönen Morgens einfällt zu befehlen. Und wie weiß er diskret die Befehle zu eigenen Herzensregungen zu machen! „Scheidemann, wenn ich dich Unter den Linden je treffen sollte, gebe ich dir zum Beweis, daß ich dich nicht kenne, im Vorbeigehen einen Fußtritt.” – „Aber selbstverständlich, Exzellenz, natürlich geben Sie mir einen Fußtritt!” Und wenn er ihn in der „Norddeutschen” oder in der Reichstagssitzung erhält, ruft er noch selbst zu dem Publikum: „Nun, habt ihr alle nicht gesehen, wie ich den Fußtritt gekriegt habe? Wird nun ein Mensch noch wagen, Exzellenz zu verdächtigen, daß Sie mir Befehle erteilt, und mich, daß ich nicht eigene, sozialdemokratische Politik treibe?!”

Der deutsche Despotismus hat wahrhaftig ein Schweineglück in der Geschichte. Es ist immer noch so wie zu Friedrichs des Großen Zeiten, als er seinen „Antimachiavell” schrieb. In Deutschland braucht der Despotismus eben keinen Machiavelli, keine List und Schlauheit, um zu herrschen. Mit solcher „Opposition” ist Regieren keine Kunst, hier darf die Reaktion in ihrer waldursprünglichen Nacktheit auftreten. Erst hatte sie mit der feigsten Bourgeoisie, jetzt mit der niederträchtigsten Sozialdemokratie zu tun. Die Sozialdemokratie übertrumpft aber entschieden die Bourgeoisie um ein Erkleckliches.

Es war eine ständige und dankbare rhetorische Figur der sozialdemokratischen Reden vor dem Kriege, sich über den „Verrat” und die Entmannung des deutschen Liberalismus zu entrüsten. Die „Fraktion Drehscheibe”[1] und die freisinnigen Wasserstrümpfler und Wadenstiefler mußten fast in jeder Volksversammlung Spießruten laufen. Und der unbarmherzige Franz Mehring hat dem „letzten Mohikaner” des Freisinns, Eugen Richter, in der „Leipziger Volkszeitung” eine unvergängliche Grabestafel in einem kurzen Entrefilet gesetzt, das er so ungefähr mit den Worten schloß: Millionen wahren im Herzen das Andenken eines Karl Marx. Hunderttausende wallfahren zur letzten Ruhestätte des Achilles-Lassalle; wer aber kennt das Grab des Thersites?

Nun, wir werden zum Grabe des Thersites wallfahren müssen, um Abbitte zu leisten, wie wir uns das Spotten über die Nationalliberalen werden abgewöhnen müssen. Die Scheidemann, Lensch, Heilmann, und wie sie alle heißen, haben alle übertrumpft. Sie sind haltloser als die Nationalliberalen, jesuitischer als das Zentrum, byzantinischer als die Freisinnigen, schamloser und verlogener als die offiziöse Reptilpresse.

Und dieser völlige Mangel an Halt im Abrutschen, an inneren Hem-

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[1] Als „Fraktion Drehscheibe” wurde die Reichstagsfraktion der Nationalliberalen Partei bezeichnet.