Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 25

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deutsch heißt das: Es gibt für das Proletariat nicht eine Lebensregel, wie es der wissenschaftliche Sozialismus bisher verkündete, sondern es gibt deren zwei: eine für den Frieden und eine für den Krieg. Im Frieden gelte im Innern jedes Landes der Klassenkampf, nach außen die Internationale Solidarität, im Kriege gelte im Innern die Klassensolidarität, nach außen der Kampf zwischen den Arbeitern verschiedener Länder. Der welthistorische Appell des Kommunistischen Manifests erfährt eine wesentliche Ergänzung und lautet nun nach Kautskys Korrektur: Proletarier aller Länder, vereinigt euch im Frieden, und schneidet euch die Gurgeln ab im Krieget Also heute „Jeder Schuß ein Ruß, jeder Stoß ein Franzos”, und morgen, nach Friedensschluß „Seid umschlungen Millionen, diesen Kuß der ganzen Welt”. Denn die Internationale ist „im wesentlichen ein Friedensinstrument”, aber „kein wirksames Werkzeug im Kriege”.[1]

Diese gefällige Theorie eröffnet nicht bloß reizvolle Perspektiven für die sozialdemokratische Praxis, indem sie die Wandelbarkeit der Fraktion Drehscheibe[2], gepaart mit dem Jesuitismus des Zentrums, geradezu zum Grunddogma der sozialistischen Internationale erhebt. Sie inauguriert auch noch eine ganz neue „Revision” des historischen Materialismus, eine Revision, gegen die alle ehemaligen Versuche Bernsteins als ein harmloses Kinderspiel erscheinen. Die proletarische Taktik vor Ausbruch des Krieges und nach demselben soll ganz verschieden, ja direkt entgegengesetzten Richtlinien folgen. Das setzt voraus, daß auch die gesellschaftlichen Bedingungen, die Grundlagen unserer Taktik, im Frieden und im Kriege grundverschieden sind. Nach dem Marxschen historischen Materialismus ist die ganze bisherige geschriebene Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen. Nach dem Kautskyschen revidierten Materialismus muß hinzugefügt werden: ausgenommen die Kriegszeiten. Demnach verläuft die gesellschaftliche Entwicklung, da sie seit Jahrtausenden von Kriegen periodisch durchsetzt ist, nach folgendem Schema: eine Periode der Klassenkämpfe, darauf Pause, worin Zusammenschluß der Klassen und nationale Kämpfe, darauf wieder eine Periode der Klassenkämpfe, wieder Pause und Zusammenschluß der Klassen und so mit Grazie fort. Jedesmal werden die Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens im Frieden durch den Kriegsausbruch auf den Kopf gestellt, die der Kriegsperiode mit dem Augenblick des Friedensschlusses umgestülpt. Das ist schon, wie man sieht, nicht mehr eine Theorie der gesellschaftlichen Ent-

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[1] Siehe den Artikel Kautskys in der „Neuen Zeit” vom 27. November v. J. [K. Kautsky: Die Internationalität und der Krieg. In: Die Neue Zeit, 33. Jg. 1914/15. Erster Band, S. 225–250.] – [Fußnote im Original]

[2] Als „Fraktion Drehscheibe” wurde die Reichstagsfraktion der Nationalliberalen Partei bezeichnet.