Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 4, 6., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 243

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heischte gebieterisch seine Lösung, und die unerschöpfliche Klassenenergie des russischen Proletariats loderte denn auch jetzt unter den schwierigsten Verhältnissen auf. Es waren die frischen Erinnerungen an die Jahre 1905/1906, an die teilweise schrankenlose politische Herrschaft des Proletariats in Rußland, an seine kühnen Vorstöße, an sein extremes revolutionäres Programm, was heute der russischen Bourgeoisie so wunderbar rasch den Entschluß eingab, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen. Es war die Angst vor der ungehemmten Entfaltung der Volksrevolution, wie sie der bürgerlichen Klassenherrschaft in den Jahren 1905–1907 ihr Medusenhaupt gezeigt hatte, was die Rodsjankos[1], Miljukows und Gutschkows sofort bewog, sich auf die Seite der Revolution zu stellen und ihrerseits ein entschlossenes liberales Programm zu vertreten. Es ist dies ein Versuch des vor zehn Jahren gewitzigten besitzenden Bürgertums Rußlands, sich der Volksbewegung zu bemächtigen, ihre politischen Aufgaben in bürgerlich-liberalen Formen auszuführen, um ihre extrem demokratischen sowie sozialen Tendenzen auszuschalten.

Hier zeigt sich jedenfalls – allen Besserwissern, klugen Vorsichtsräten und kleingläubigen Pessimisten zum Trotz –, daß das Werk der Revolution von 1905 nicht verlorengegangen ist, daß die Opfer, die sie damals kostete, nicht vergeblich dargebracht waren, daß der kühn-revolutionäre Charakter der Forderungen, die von der sozialistischen Arbeiterschaft vertreten wurden, wohl eine sehr „praktische” Politik darstellte. Der heutige Mut und die Tatkraft der russischen liberalen Bourgeoisie sind nichts als ein schwacher Widerschein der Feuersbrünste von 1905 bis 1907. Dieselbe Machtentfaltung des Proletariats, die sie damals nach kurzer Zeit in die Arme der Konterrevolution geworfen hatte, stieß sie heute gleich im ersten Moment an die Spitze der Bewegung, gerade um der Wiederholung einer ähnlichen Machtentfaltung vorzubeugen.

Die Revolution in Rußland hat so heute im ersten Anlauf über den bürokratischen Absolutismus gesiegt. Aber dieser Sieg ist nicht das Ende, sondern nur ein schwacher Anfang. Denn einerseits muß sich die rückläufige Bewegung der Bourgeoisie von ihrem momentanen vorgeschobenen Posten des entschlossenen Liberalismus mit unvermeidlicher Logik aus ihrem allgemeinen reaktionären Charakter und ihrem Klassengegensatz zum Proletariat über kurz oder lang ergeben. Andererseits muß die einmal geweckte revolutionäre Energie des russischen Proletariats mit

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[1] M. W. Rodsjanko war Vorsitzender des am 27. Februar 1917 gebildeten Provisorischen Komitees der Duma, das die Revolution zwar anerkannte, aber bemüht war, die revolutionäre Entwicklung aufzuhalten und die bisherige Ordnung wiederherzustellen.